Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld
1985
Morgens kommt Thomas Bernhard in den Verlag. Wir sprechen noch einmal über Stellen im Manuskript ›Alte Meister‹, die ein juristisches Verbot des Buches hervorbringen könnten. Es geht insbesondere um Ausführungen auf S. 96 des Manuskripts: Die wichtigsten österreichischen Minister sind Nazis, und die übrigen österreichischen Minister sind Dummköpfe, und dann werden die Minister sogar noch ausdrücklich aufgeführt. Er streicht auch den Satz: ›Aber jedes Volk verdient die Regierung, die es hat, und da das Volk gemein und niedrig und stumpfsinnig und habgierig und total verblödet ist, hat es auch eine gemeine und niedrige und stumpfsinnige und habgierige und total verblödete Regierung.‹
Es fällt diesmal leichter, Bernhard zu überzeugen, diese Stellen zu ändern bzw. zu streichen.
Dann spricht Bernhard mit Fellinger, geht mit Burgel Zeeh über Stunden hinweg zum Essen und Kaffeetrinken und redet und redet; abends noch einmal ein Treffen mit Rudolf Rach.«
In der Druckfassung ist nicht mehr vom »Propheten vom Mönchsberg« die Rede, vielmehr heißt es: »[…] ich wundere mich wirklich, warum dieser Provinzdilettant, der immerhin Schulrat in Oberösterreich gewesen ist, heute gerade von den Schriftstellern und vor allem von den jüngeren Schriftstellern und nicht von den unbekanntesten und unauffälligsten so hoch geehrt wird.« (Th. B.: Werke 8 , S. 47) S. U. hat in der Chronik eine Kopie von S. 96 des Manuskripts aufbewahrt, auf der folgende Passagen mit Bleistift gestrichen sind: »Die Mächtigen sind entweder Nationalsozialisten oder Dummköpfe, die wichtigsten Minister dieser Regierung sind Nazis, das ist die Wahrheit, der Justizminister ist ein Nazi und der Verteidigungsminister ist ein Nazi, der Handelsminister ist ein Nazi und es gibt noch zwei Nazis als Staatssekretäre, und der Vizekanzler ist auch ein Nazi. Die wichtigsten österreichischen Minister sind Nazis und die übrigen österreichischen Minister sind Dummköpfe, und selbst einer der Parlamentspräsidenten ist ein Nazi, so Reger. In vielen österreichischen Städten sind heute Nationalsozialisten Bürgermeister oder Polizeipräsidenten, so Reger. Vierzig Jahre nach dem absoluten Tiefpunkt der österreichischen Geschichte haben wir heute diesen Tiefpunkt wieder erreicht, das ist die Wahrheit, da kann gesagt werden, was will, das ist die unumstössliche und deprimierende Wahrheit. Dieser Staat wird augenblicklich nur von Nationalsozialisten und Dummköpfen regiert, denn dieser Staat wird augenblicklich von Nationalsozialisten und von Sozialisten regiert und die Sozialisten sind Dummköpfe, so Reger. Und diese sozialistischen Dummköpfe sind gleichzeitig auch noch die charakterlosesten, die es in Österreich jemals gegeben hat, so Reger. Wir machen der Welt weiss, dass wir eine Demokratie sind, sagte Reger und sind doch nur von habgierigen und von nichts als von einer perfiden staatspolitischen Unverschämtheit getriebenen gemeingefährlichen Volksverrätern regiert. Dieses Land und dieser Staat sind zwar klein und unbedeutend, aber doch, das ist die tagtäglich schmerzende Wahrheit, für den Betroffenen abgrundtief in den moralischen Morast gesunken. Nationalsozialisten und Dummköpfe herrschen auf dem Ballhausplatz und im Parlament, das ist die Wahrheit mein lieber Atzbacher, sagte Reger und betrachtete dabei eindringlich den Weißbärtigen Mann , von Nationalsozialisten und von pseudosozialistischen Dummköpfen werden wir nun schon so lange um alles das betrogen, das uns etwas wert ist. Dieses Volk ist in den letzten vierzig Jahren, was die Moral betrifft, nicht den stumpfsinnigen Wohlstand, sagte Reger, einen fürchterlichen, ja einen entsetzlichen Weg in den moralischen Morast gegangen, aus dem es kaum einen Ausweg gibt, das ist das deprimierende.«
Der darauffolgende Satz (»Ein so schönes Land, sagte Reger und ein so abgrundtiefer moralischer Morast, sagte er, ein schönes Land und eine so durch und durch brutale und gemeine und selbstzerstörerische Gesellschaft.«) wird nicht gestrichen, jedoch die sich anschließende Passage: »Aber jedes Volk verdient die Regierung, die es hat und da das Volk gemein und niedrig und stumpfsinnig und habgierig und total verblödet ist, hat es auch eine gemeine und niedrige und stumpfsinnige und habgierige und total verblödete Regierung, so Reger.« Diese Passage wäre in der Druckfassung (siehe Werke 8 ) auf S. 164, Z. 6 von oben, nach »ist das Deprimierende« zu stehen
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