Der Briefwechsel
Heimweh, Unterdrückung, Kälte, Gemeinschaftshaft. Kobals Erinnerungen ergeben ein präzises Bild der »Kindheitslandschaft«, in der Lebensentscheidendes fehlte und in dem ihm Jugend vorenthalten blieb. Das blinde Fenster an der Seitenwand des Bahnhofs des österreichischen Grenzortes erinnerte ihn daran, daß sein Vater einmal versucht hatte, seinen an »Augenfieber« leidenden Bruder zum Zug nach Klagenfurt und zu einem Arzt zu bringen, doch das nächtliche Rennen war vergebens, das Auge ging verloren. Jetzt wurde ihm dies Fenster zu einem Zeichen der Umkehr, »es bedeutete mir, Freund, du hast Zeit«.
502 In diesem Sinne hieß Erinnern für Kobal nicht, daß das, was gewesen war, wiederkehrte, sondern: »Was gewesen war, zeigte, indem es wiederkehrte, seinen Platz. Wenn ich mich erinnerte, erfuhr ich: So war das Erlebnis, genau so!« Peter Handkes Wiederholung ist kein Sichwiederholen, sondern ein Sich-Wieder-Holen, einen neuen Anfang machen; wiederholen heißt nicht »es war einmal«, sondern »fang an«.
Das zweite, umfangreichste Kapitel, »Die leeren Viehsteige«, erzählt von dem Aufbruch Filip Kobals nach dem Süden, über die Schwelle der Grenze von Österreich nach Jugoslawien; seine erste Nacht im Ausland wurde zu seiner längsten, Träume und Albträume militärischer und kriegerischer Situationen begleiteten sie wie immer wieder Lichtzeichen in dunklen Tunnels. Er lernte den Unterschied zwischen Gleichschritt, der ihm unerträglich, und Gleichklang, der ihm nicht möglich war, während Gleichmaß von Menschen und Dingen ihm zum großen Erlebnis wurde. So etwa, als er in seinem Gepäck zwei Bücher seines Bruders findet, »Bruderbücher«, die der Ältere dem Jüngeren vererbt hatte. Zum einen das Werkheft, das Gregor während seines dreijährigen Aufenthaltes auf der Landwirtschaftsschule in Maribor verfaßt hatte und auf dessen Einsichten die Anlage eines Obstgartens im heimatlichen Rinkenberg beruhte; der Obstgarten war für den jungen Filip ein eigener Ort gewesen, ein Ort mit Gleichmaß. Das zweite Gepäckstück ist ein slowenisch-deutsches Wörterbuch, aus dem Geburtsjahr des Vaters 1895 stammend. Es war auf Vollständigkeit aus und sammelte Ausdrücke und Wendungen aus den verschiedenen Gegenden Sloweniens. Er studierte Stelle für Stelle, die der Bruder angestrichen hatte, und aus den Erklärungen wurde ihm bewußt, was ihm in der Kindheit unbewußt geblieben war; die Dörfler wurden zum »Volk«, die Dinge begannen neu zu leben und erhielten die Kraft von Weltbildern: »Du bist langsam wie Nebel ohne Wind«, »bei Euch ist es kalt wie auf einer Brandstätte«, die meisten Wendungen betrafen Sterben und Tod, »er hat ausgeflucht«. Was für den Bruder Handarbeit war zur Kultivierung seiner Landwirtschaft, das wird nun für ihn seine Arbeit mit Wörtern. Wörter schreibend wurde seine Hand zu einer Schreibhand, schön, schwer, bedachtsam, in ihr schien für ihn die Erfinderhand des Bruders und die Selbstlernhand des Vaters vereint.
503 Durch das Studium dieses Wörterbuchs wird ihm Unbewußtes bewußt und die Zusammenhang stiftende Bedeutung der Wörter deutlich: »ohne die Wortwinkel war die Erde, die schwarze, die rote, die begrünte eine einzige Wüste.« »Kein Drama, kein Geschichtsdrama« wollte er von nun an mehr gelten lassen »als das von den Dingen und Wörtern der lieben Welt, als das vom Dasein«. Aus dieser Einsicht schien ihm sein zukünftiger Beruf, der des Schriftstellers, eine klare Aufgabe zu haben: »Ich schreibe auch nicht mehr, wie als Kind, in die Luft, sondern schraffiere über ein Papierstück, das den felsgrauen Stufen aufliegt, wie ein Forscher und zugleich Handarbeiter.«
Ein vom Bruder angestrichenes Wort läßt ihn einen leeren Viehsteig sehen, für ihn ein Sinnbild des Untergangs von Tieren und Völkern. Sein Geschichtslehrer, so erinnert er sich, hatte die Vorliebe, von verschwundenen Völkern zu erzählen, so von den Mayas, die starben, als ihr Leben nicht mehr rein war, die Symbole ihrer Religion nicht mehr allgemeingültig und die ihre Pyramidentreppen nicht mehr als Gang zu den Göttern sahen. Untergegangenes Vieh, untergegangene Völker – warum nehmen sich die Menschen nicht mehr »das alte Recht«, das Recht auf eigenes Leben? Das letzte im Wörterbuch angestrichene Wort hatte eine Doppelbedeutung; »sich stärken« und »Psalmen singen«. In seiner Intuition wurden ihm die blinden Fenster wie die leeren Viehsteige zu »Wasserzeichen«, zu Zeichen, daß
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