Der Briefwechsel
Wiederkehr möglich ist.
Im dritten Kapitel »Die Savanne der Freiheit und das neunte Land« verwandelt sich die Landschaft der Wörter, sie wird utopisch-real. Nach abenteuerlicher Nachtwanderung über Gipfel und Gipfelgrat findet sich der Erzähler am Ziel seiner Reise, im Karst, jener Hochfläche über dem Golf von Triest mit den große Wannen und Schüsseln bildenden Dolinen, deren Sohlen von fruchtbarem Schwemmland bedeckt sind. Kobal lernt hier sehen, lernt jede einzelne Form zu unterscheiden und deren Ineinandergreifen zu erkennen. Der Geschichtslehrer, so erinnert sich Kobal, wollte den Zyklus eines Volkes aus den Formen und Beschaffenheiten des Bodens ablesen Auch die Halbinsel Yucatán, das Land der Maya, sei ein Karst, eine hochgewölbte Karstplatte, die zur Doline des Erzählers in »Umkehrform« steht, beides eine »Landschaft wie Freiheit«, »eine Savanne der Freiheit«. Jetzt, an
504 gesichts einer von Menschen bearbeiteten Doline, braucht er nicht wie in heimischer Umgebung blinde Fenster und leere Viehsteige zu suchen als Siegel versunkener Reiche. Diese Doline wird zu einem Modell einer möglichen Zukunft, zu einer Wieder-Holung, zu einem neuen »Fang an«, zu einem Ort, von dem er sich vorstellen kann, daß er einen Atombombenabwurf überdauern wird und der überlebenden Menschheit als Ort des Neubeginns dienen kann. Das Bild der in der Karsterde versenkten Plantage verläßt den Erzähler nicht und bleibt ihm als Hochgefühl der Freiheit und des Mutes zu einem immer wieder neuen Erzählen.
17. April 1986
[Klappentext]
Peter Handke
Die Wiederholung
Peter Handkes neues episches großes Werk, bei dem die Musen nicht am Anfang, sondern am Ende angerufen werden, ist Erzählung und gleichzeitig Erforschung der Erzählung, deren Entstehung und Bedeutung.
»Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit ich, auf der Spur meines verschollenen Bruders, in Jesenice ankam.« Der 45jährige Filip Kobal erinnert sich in diesem ersten Satz des ersten Kapitels »Das blinde Fenster« wie er, noch nicht 20 Jahre alt, im Sommer 1960 von seinem Heimatdorf im südlichen Kärnten in die jugoslawische Republik Slowenien aufbricht, um seinen verschollenen Bruder Gregor zu suchen. Auf seiner Suche wird ihm deutlich, daß er den Bruder letztlich gar nicht finden, sondern ihn aus dem Undeutlichen seines Schicksals herausfinden, ihn erzählen will. Kobals Erinnerungen ergeben ein präzises Bild der »Kindheitslandschaft«, in der Lebensentscheidendes fehlte und in dem ihm Jugend vorenthalten blieb. Das blinde Fenster an der Seitenwand des Bahnhofs des österreichischen Grenzortes erinnerte ihn daran, daß sein Vater einmal versucht hatte, seinen an »Augenfieber« leidenden Bruder zum Zug nach Klagenfurt und zu einem Arzt zu bringen. Jetzt wurde ihm dies Fenster zu einem Zeichen der Umkehr, »es bedeutete mir, Freund, du hast Zeit«.
In diesem Sinne hieß Erinnern für Kobal nicht, daß das, was gewesen war, wiederkehrte, sondern: »Was gewesen war, zeigte, in
505 dem es wiederkehrte, seinen Platz. Wenn ich mich erinnerte, erfuhr ich: So war das Erlebnis, genau so!« Peter Handkes Wiederholung ist kein Sichwiederholen, sondern ein Sich-Wieder-Holen, einen neuen Anfang machen; wiederholen heißt nicht »es war einmal«, sondern »fang an«.
Das zweite, umfangreichste Kapitel, »Die leeren Viehsteige«, erzählt von dem Aufbruch Filip Kobals nach dem Süden, über die Schwelle der Grenze von Österreich nach Jugoslawien. Und wie die blinden Fenster den Erzähler im Grenzort leiteten, so auf dieser Reise die beiden »Bruderbücher«, die der Ältere dem Jüngeren vererbt hatte. Zum einen das Werkheft, das Gregor während seines dreijährigen Aufenthaltes auf der Landwirtschaftsschule in Maribor verfaßt hatte und auf dessen Einsichten die Anlage eines Obstgartens im heimatlichen Rinkenberg beruhte; der Obstgarten war für den jungen Filip ein eigener Ort gewesen, ein Ort mit Gleichmaß. Das zweite Gepäckstück ist ein slowenisch-deutsches Wörterbuch, aus dem Geburtsjahr des Vaters 1895 stammend. Er studierte Stelle für Stelle, die der Bruder angestrichen hatte, und deshalb begannen die Dinge zu leben und erhielten die Kraft von Weltbildern. Auf diese Weise wird ihm die Zusammenhang stiftende Bedeutung der Wörter deutlich: »ohne die Wortwinkel war die Erde, die schwarze, die rote, die begrünte eine einzige Wüste.«
»Kein Drama, kein Geschichtsdrama« wollte er von nun an mehr gelten lassen »als das von den Dingen
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