Der Briefwechsel
Leser mit den »Verlagsmechanismen« vertraut, und viel erfährt er »über die Personen, die die Briefe schreiben«. Die Möglichkeit ist gegeben, weil im Unterschied zu den bisher in Buchform erschienenen Briefwechseln des Autors mit den Kollegen Alfred Kolleritsch und Hermann Lenz (siehe Quellen und Literatur. Briefwechsel) sich die Korrespondenzen beider Seiten, mit wenigen Ausnahmen, erhalten haben. Damit ist der briefliche Dialog zwischen den Protagonisten vollständig dokumentiert.
Dokumentiert sind darüber hinaus viele persönliche Begegnungen zwischen Autor und Verleger. Dies verdankt sich der Eigenart von Siegfried Unseld, seit seinem Eintritt in den Verlag 1952 sogenannte Reiseberichte zu diktieren, die das Wesentliche seiner außerhalb Frankfurts stattfindenden Begegnungen und Gespräche wiedergeben; und es verdankt sich der von ihm seit Januar 1970 geführten (und ebenfalls diktierten) Chronik : In ihr hielt er die Ereignisse des Verlagsalltags fest. Beide Quellen werden zur Kommentierung der Briefe herangezogen. Obwohl sie auf der Erinnerung nur einer der Personen beruhen, Irrtümer transpor
732 tieren und, da für die Verlagsöffentlichkeit bestimmt, häufig strategischen Zielen unterliegen: Sie erlauben, sich eine Vorstellung zu bilden vom komplexen Beziehungsgefüge zwischen diesem Autor und diesem Verleger. Um Asymmetrien in der Darstellung dieses Verhältnisses entgegenzuwirken – Handke machte sich über seine Begegnungen mit Unseld nur sehr selten Notizen –, werden S. 739-743 Rückblicke von Peter Handke auf solche Zusammentreffen wiedergegeben.
Eine weitere Kontextualisierung der Briefe befördert die Kenntnis der Lebensphasen der Korrespondenzpartner.
Im August 1965, als der Suhrkamp Verlag sich für die Veröffentlichung von Peter Handkes erstem Roman, Die Hornissen , entschied, war der Autor noch keine 23 Jahre alt. Bevor der erfahrene Verleger dem jungen Autor den Ratschlag gab, statt Prosa besser Dramen zu verfassen, wenn er vom Schreiben leben wolle, hatte er bereits ein Stück fertiggestellt: Publikumsbeschimpfung. Dessen Uraufführung 1966, im Jahr der Publikation des Debütromans, in der Regie von Claus Peymann veränderte das (nicht nur europäische) Theater – seine Wirkung auf die Theatertheorie und -praxis ist nur vergleichbar mit der von Kaspar , dem Sprechstück, das ein Jahr später zur Uraufführung gelangte. Die siebziger Jahre standen eher im Zeichen der Prosa: Neben der erwähnten, bis heute fast sprichwörtlichen Angst des Tormanns beim Elfmeter folgten im schnellen Rhythmus die offensichtlich (aufgrund von Vorarbeiten) auch in kurzer Zeit niedergeschriebenen Erzählungen Wunschloses Unglück, Der kurze Brief zum langen Abschied, Die Stunde der wahren Empfindung und Die linkshändige Frau . Durch sie wurde ihr Autor, und hier ist das Wort am Platz, »berühmt«, und zwar weltweit. Dabei, so das eigene Selbstverständnis, dienten sie als Vorarbeiten für ein großes Projekt: das Unternehmen Im tiefen Österreich . Als Peter Handke
733 sich 1978 in New York daran machte, erlebte er, so seine spätere Bezeichnung, eine erste »Verwandlung«: Dominierten in den Erzählungen bis dahin die Außenseiter, erfuhr Sorger, der Protagonist der Langsamen Heimkehr , in einem »gesetzgebenden Augenblick« die »friedensstiftende Form«. Die »Suche nach dem Zusammenhang« könnte als Leitidee über den großen Prosaarbeiten der achtziger Jahre stehen, von der Lehre der Sainte-Victoire über die Kindergeschichte und die für den Autor besonders gewichtige Die Wiederholung bis zu Die Abwesenheit . Die drei Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre geschriebenen Versuche (mit ihnen setzt bei Handke die Epoche der Bleistifthandschriften ein) sind als Proben an eingegrenzten Erscheinungen zu verstehen, bevor 1993 zwölf Monate lang Mein Jahr in der Niemandsbucht , das bis zu diesem Zeitpunkt umfangreichste Buch, entsteht: Mit und durch es unterzieht er sich einer zweiten Verwandlung: Die Erzählung, und nur sie, erbringt den Zusammenhang zwischen den Menschen sowie den Menschen und der Natur. Die Umstände der Publikation dieses Buches lösten die »dritte Krise« zwischen Peter Handke und Siegfried Unseld aus (siehe S. 741).
1991 mischte Handke sich ein: Der Austritt Sloweniens aus dem jugoslawischen Bundesstaat ging ihn, der mütterlicherseits dem Volk der Slowenen zugehört, persönlich an; ihm hatte das nun zerfallende Jugoslawien als »das wirklichste Land in Europa«
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