Der Brombeerpirat
geschafft, sie zu beschützen. Die Vorwürfe, die sie sich machten, waren bedrückend gewesen. Doch damals hatten sie ja auch noch nichts von dem geahnt, was sie inzwischen nach und nach herausgefunden hatten.
In der letzten Nacht zog sich Oma Alide die Strickjacke über, legte sich hin und schlief ein. Warm und kuschelig, wie es auch für Konstantins Katze die letzten Nächte auf der Strickjacke gewesen sein musste. War sie vielleicht noch erwacht, als sie merkte, dass ihr die Luft wegblieb? Hatte sie das Spraydöschen verzweifelt in den Händen gehalten, das die Nachtschwester gegen ein vollkommen leeres ausgetauscht hatte? Hatte sie ihre Finger krampfhaft um die Notklingel gekrallt, ohne dass Hilfe kam?
Pinki hatte sich diese schrecklichen letzten Minuten schon so oft ausgemalt. Es nahm ihr ebenfalls den Atem, wenn sie an die Qualen dachte und an die liebevolle Frau, die daran zugrunde gegangen war. Ganz allein. Ohne die Menschen, die sie liebten. Ohne ihre Familie. Ohne die Kids von der Waldkirche.
Ein dummer Zufall hatte sie zu dieser unerträglichen Wahrheit geführt.
Leefke hatte die Kleidungsstücke der Großmutter sortiert, eigentlich nur um zu sehen, ob sie nicht doch etwas dieser viel zu großen, aber so vertrauten Erinnerungsstücke aufheben wollte. Auch die Sachen aus dem Krankenhaus, sie waren in einer extra Tasche. Da fiel ihr diese Strickjacke in die Hände. Katzenhaare. Alles voller Katzenhaare. Und ein leeres Inhaliergerät. Warum lag es dazwischen? Im Krankenhaus wurden verbrauchte Medikamente fachgerecht entsorgt.
Ein Verdacht hatte sich bestätigt. Und allen war auch bald klar gewesen, dass Rika in diese Sache verwickelt war. Linke Fragen im rechten Augenblick hatten sie so oft ins Stottern gebracht. Doch verplappert hatte sie sich nie. Es war allen ein Rätsel, wieso sie ein solches Spiel spielte, warum sie Oma Alide mit voller Absicht in ihrem Krankenzimmer verrecken ließ. Sie hatte doch einen so großartigen Mann an ihrer Seite. Es passte nicht.
Und doch hatten sie geschwiegen. Zuerst, weil sie sich nicht sicher gewesen waren und erbärmliche Angst vor den Erwachsenen hatten. Und dann hatte sich die Schraube des Schweigens immer enger zugedreht, bis sie selbst so tief drin steckten, dass sie sich alle ein Stück weit schuldig gemacht hatten. Bis es nicht mehr ging. Bis man nur noch die Klappe halten konnte, wenn man nicht alle anderen mit hineinreißen wollte.
Nur Leefke war daran zerbrochen. Vielleicht war es ihre Liebe zu Jasper, der so unwürdig hintergangen wurde, oder die Testamentseröffnung letzte Woche, bei der sie nur als Besitzerin eines Drittels und ihr Onkel auf Lebenszeit als Verwalter benannt wurde. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Sie war so weit. Und sie war bereit, alle anderen mit in die Scheiße zu reiten.
Und dann war sie tot.
Und nun hatte Pinki selbst alles verraten. Wencke Tydmers hatte ihr die Wahrheit entlockt, die sie so sicher in ihrem Innersten verborgen geglaubt hatte.
Sie hatte aufgegeben.
Das gute Gefühl, mit dem sie das Haus betreten hatte, war nun fort. Alles war taub. Ihre Gedanken, ihr Gewissen, ihr Leben.
Sie blieb so nass, wie sie war. Niemand bemerkte sie im Treppenhaus und ermahnte sie, sich etwas Trockenes anzuziehen. Alles war egal.
Die Maritim-Klinik lag nur um die Ecke.
27.
Remmer musste scharf bremsen. Fast hätte er das Mädchen auf der Kühlerhaube gehabt. Er war heute sowieso nicht mit den Gedanken im Taxi. Nicht nach den Schüssen im Vogelschutzgebiet. Und nicht nach dem, was er daraufhin erfahren musste. Er war mit seinen Gedanken meilenweit von der Straßenverkehrsordnung entfernt, denn in seinem Kopf war nur Platz für Rika.
Der Regen prasselte laut, fast aggressiv auf die Windschutzscheibe, und obwohl die Scheibenwischer ihr Bestes gaben, hätte er die kleine, hastende Gestalt fast übersehen, die ohne einen Blick nach links oder rechts die Fahrbahn überquerte. Er blieb stehen und sah, wie die Person im dichten Regen verschwand. Es war diese Rosa Grendel, Pinki, eine Freundin der armen Leefke Konstantin. Er konnte verstehen, dass das Mädchen kopflos und halb nackt durch den Sturm rannte. Sie musste sich so ähnlich fühlen wie er.
Verloren. Ausgeliefert. Desillusioniert.
Wencke hatte Recht gehabt. Rika, seine umschwärmte, warme Rika, gab es nicht. Die Frau, die er bislang dafür gehalten hatte, war eiskalt und nicht eine Sekunde lang ein zärtliches Gefühl wert.
Er hatte sie in der Klinik durch die Scheibe
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