Der Brombeerpirat
aufhalten, bei diesem Wetter und in dieser Situation?
Das Wasser spritzte im hohen Bogen zur Seite, als Jasper mit dem Fahrrad die nasse Straße entlangraste. Tropfen aus Schweiß und Regen brannten in seinen Augen, er konnte die Lider kaum geöffnet halten, doch er musste Wencke finden. Seine Schwester. Sie war die Einzige, die ihm vielleicht etwas von dem erzählen konnte, was in den letzten Tagen auf dieser Insel und in seinem Leben schief gelaufen war, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte.
Was würde sie tun? Wo würde sie anfangen? Viel leicht dachte sie, dass er verletzt war, machte sich Sorgen um ihn, seine kleine Schwester. Oder schlimmer noch: Sie misstraute ihm, glaubte dem Gerede der anderen und hielt ihn, Jasper, für einen Kindesverführer. Vielleicht war er es sogar. Er hatte Leefke nie auch nur eine zweideutige Geste zukommen lassen, doch vielleicht hatte er sie trotz allem verführt. Sie und die anderen Kinder von der Waldkirche. Er hatte sie zur Ruhestörung verführt. Zum Aufschreien und Gegenreden. Ja, das hatte er getan. Und vielleicht war er aus diesem Grunde wirklich schuldig.
Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, lenkte er sein Rad durch die Absperrung, übersah das »Fahrradfahren verboten!«-Schild und hatte endlich ein Dach über dem Kopf. Ein Dach aus Blättern. Einen Ort der Ruhe mitten im Sturm. Er fuhr den Wall hinunter. Die Waldkirche hatte ihre treue Gemeinde vor dem Unwetter beschützt.
Sie waren fast alle da. Wilko und Philip, Jens und Swantje, nur Pinki war nicht dabei. Und die Frau, die ihm den Rücken zugekehrt hatte, die hatte er gesucht.
»Hallo Wencke«, sagte er.
Sie schnellte herum, blickte ihn an, doch sie stand nicht auf, umarmte ihn nicht. Das hatte sie noch nie getan. Es war ein gutes Zeichen, dass sie sitzen blieb. Es war ein Zeichen dafür, dass sie ihn nicht für schuldig hielt.
»Mein Gott«, sagte sie nur.
»Verdammt nochmal, wo bist du gewesen? Wir haben dich echt gebraucht, Brombeerpirat.« Jens hatte sich erhoben, doch nicht, um ihn freundschaftlich zu begrüßen, sondern eher mit Wut und Misstrauen im Blick. Der Wut und dem Misstrauen, die er selbst ihnen beigebracht hatte.
»Bitte glaubt mir, wenn ich es gekonnt hätte, dann wäre ich hundertprozentig bei euch gewesen.«
Er sah sie an. Jeden Einzelnen. Und in diesem Moment wurde ihm erst richtig bewusst, dass Leefke nicht mehr dabei war. Nie mehr dabei sein würde. Er ließ das Rad fallen, es klatschte auf den Boden, der gerade begann, sich im Regen aufzulösen. Harte, vertrocknete Walderde schwamm in kantigen Krusten auf der Pfütze.
Es kostete Jasper viel Kraft, sich neben die anderen auf die Holzbank zu setzen. Er hatte für einen kurzen Moment Angst, sie würden ihn wieder fortschicken.
Doch dann schob sich Wenckes Hand in seine, und er wusste, dass er am richtigen Ort angekommen war. Bei seiner Familie.
»Ich bin froh, dass Pinki mir die ganze Geschichte erzählt hat. Versteht ihr nicht? Irgendjemand musste das Schweigen brechen. Ihr solltet ihr dankbar sein, dass sie die Erste war.« Betretenes Schweigen war die Antwort auf Wenckes Worte.
Sie schienen etwas zu besprechen zu haben. Etwas, das mit dem Dilemma der letzten Tage zu tun hatte und von dem er als Allerletzter eine Ahnung hatte. Also schwieg auch er, die konzentrierten Gesichter der Kinder im Auge.
»Wir hatten aber abgemacht, dass keiner ein Wort sagt«, entgegnete Wilko. »Niemand hat das Recht dazu, eine solche Abmachung zu brechen, wenn es allen anderen schaden wird.«
»O nein«, erwiderte Wencke streng, »wenn die Abmachung allen vernünftigen und auch rechtmäßigen Regeln widerspricht, dann ist es eine Straftat. Zu einer Straftat sollte man aber niemanden verdonnern. Dies geht eine Spur zu weit, was euren Zusammenhalt angeht.«
Jasper hörte seine Schwester reden, verstand nichts von dem, was sie sagte, und war doch unendlich dankbar, dass sie seine Aufgabe hier in der Waldkirche übernommen hatte.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Swantje mit ängstlichem Blick.
Wencke antwortete nicht. Sie blickte nur in die Runde.
»Vielleicht zur Polizei gehen?«, fragte Swantje leise.
»Aber nicht ohne Pinki«, rief Philip dazwischen.
Dann schwiegen sie erneut. Wilko und Jens flüsterten miteinander.
»Es gibt noch ein Problem«, sagte Jens schließlich, nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte.
»Ja?«, fragte Wencke.
Jens zögerte. »Wir haben Pinki diese Briefe geschrieben.«
»Ihr habt was?«, rief Swantje
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