Der Brombeerpirat
nichts für sie tun.«
Dieser Druck im Schädel, Jasper presste die Hände gegen die Schläfen, er hatte Angst, alles würde zerspringen. Sein Kopf, sein Herz, sein Leben. »Wann ist es passiert?«, stieß er hervor.
Es entsetzte ihn, mit welcher Gelassenheit Rika die Teller auf den Tisch stellte.
»Sie starb kurz vor Mitternacht, kurz vor deinem Geburtstag. Ich habe noch gedacht: Happy Birthday, lieber Jasper, das wird ein verdammt trauriger Tag für dich werden. Aber du bist ja nicht gekommen. Warst einfach weg. Stattdessen war die Polizei in der Klinik, und Wencke ist auch auf die Insel gekommen. Und alle haben mich nach dir gefragt.« Ihre Stimme wurde schriller, die demonstrative Ruhe konnte sie offenbar nicht mehr aufrechterhalten. Rika ließ mit lautem Klirren das Besteck in die tiefen Teller fallen. »Alle fingen sie an, interessierten sich für deine Liaison mit diesem jungen Ding. Du hast mir tausendmal geschworen, dass da nichts war, doch wenn mich jeder danach fragt …« Sie schien mit einem Mal kein Wort mehr über die Lippen zu bekommen. Schlaff hingen ihre Arme herunter, sie lehnte sich an die Küchenzeile und blickte zu Boden. Hinter ihr blubberte die Tomatensoße und hinterließ blutrote Flecken auf dem Kochfeld, an den Fliesen und an Rikas Oberarm. Sie zuckte kurz zusammen, blieb jedoch regungslos stehen.
Jasper erhob sich, nahm den Soßentopf vom Feuer und stellte die Herdplatte ab. Er verspürte keinen Hunger mehr, auch keine Wut und noch keine Trauer. Leefke war tot. Sie hatte ihn im Haus in den Dünen eingeschlossen, war mit dem Rad zur Maritim-Klinik gefahren, wollte sich dort mit Rika treffen, das wusste er. Und nun war sie tot. Das Blubbern der Soße ließ nach, wie erstarrt lag die rote Masse im Topf; die Blasen hatten Krater in der sämigen Oberfläche hinterlassen, die wie Wunden aussahen. Jasper starrte darauf, er konnte seinen Blick nicht davon lösen, dachte an Leefke und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Körper zart und zerbrochen auf der Erde gelegen haben musste. Und das Einzige, was er zu fühlen imstande war, war Schmerz.
»Sie wollte dich sprechen. Sie wollte dich zu mir bringen, weil sie sagte, du hättest mir etwas zu sagen.« Fast mechanisch leierte er die Worte herunter. Sie würde schon wissen, was er damit sagen wollte.
Doch Rika blieb stumm. Die Haare waren ihr über das Gesicht gefallen, sodass er ihren Ausdruck nur vermuten konnte. Doch an dem Zucken ihrer Schultern konnte er erkennen, dass sie weinte. Er ließ sie einfach stehen, ging weder tröstend zu ihr, noch verließ er den Raum. Als sie wie blind nach einem Küchentuch griff und sich die Nase putzte, wusste er, dass sie nun reden würde. Er kannte sie doch schon so lange. Und er hatte sie wirklich geliebt, vielleicht nur beiläufig, aber das Gefühl war da gewesen. Das feuchte Schluchzen verebbte.
»Ich hatte doch keine Ahnung. Mein Gott, woher sollte ich wissen, dass sie sich das Leben nehmen würde. Ich habe ihr immer die Wahrheit gesagt, ohne viel zu beschönigen, nie hätte ich gedacht, dass sie es nicht ertragen könnte.«
Jasper kam eine grausame Befürchtung, die sich in ihm ausbreitete wie ein Geschwür, die ihm von einem Moment auf den anderen die Luft zum Atmen nahm: Leefke hatte sich seinetwegen zu Tode gestürzt. Sie musste Rika in irgendeiner Weise bedrängt haben, vielleicht hatte sie ihr von einer unglücklichen Affäre erzählt, die in Wahrheit nie stattgefunden hatte. Von Liebesschwüren seinerseits und den ganz großen Gefühlen. Er wusste, dass Rika ihr in diesem Fall eine kompromisslose Lektion erteilt hätte. War Leefke vielleicht doch kopfloser und kindlicher gewesen, als er sie gesehen hatte? Er dachte an zarte Berührungen und warme Worte zwischen ihnen. Oh, bitte, lass sie nicht an etwas anderes geglaubt haben als an Freundschaft.
Wenn er der Grund für ihren Freitod war, dann könnte er das nicht ertragen.
»Es tut mir so Leid, Jasper, es tut mir so unendlich Leid«, sagte Rika. Er war eigentlich schon zu ausgefüllt mit seinen unfassbaren Gedanken, um ihren Worten zu lauschen. Aber irgendwie drangen sie zu ihm durch. Erst leise und wie um tausend Ecken, dann immer klarer.
Warum entschuldigte sie sich? Es passte nicht zu ihr. Wenn sie der unglücklichen Leefke ein paar wahre Worte mit auf den Weg gegeben hatte, dann hätte sie sich nichts vorzuwerfen gehabt. Es musste etwas anderes sein. Etwas, von dem er keine Ahnung hatte.
Und dann kamen ihm die Andeutungen in den Sinn,
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