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Der Brombeerpirat

Der Brombeerpirat

Titel: Der Brombeerpirat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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der Zwang, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Sanft versuchte sie, Pinki zu sich herüberzuziehen, doch noch war der Abgrund zu nahe, noch stand die unerklärliche Sehnsucht nach dem Nichts auf der anderen Seite und hielt ihre Hand auf dem Mädchen.
    »Es wird nie wieder so sein wie früher, Pinki. Das verspreche ich dir. Wenn du es heute schaffst, wenn du dieser Versuchung, einfach Schluss zu machen, widerstehst, dann wirst du nie wieder, hörst du, nie wieder so allein sein, wie du es gewesen bist.«
    Und dann glitt Pinki langsam und wie bewusstlos von der Mauer herunter auf den sicheren, sandigen Boden.

33.
    Heiter bis wolkig, 22 “C im Schatten
    Wencke spürte den rauen Stein an ihrem Rücken. Es war nicht mehr so heiß, und der Dauerregen der letzten Tage war heute nach und nach von der Sonne getrocknet worden. Ihr letzter Urlaubstag.
    Sie schaute nach oben, über ihr kreisten langsam und mächtig die unendlichen Strahlen, spannten sich zwischen sie und den Abendhimmel und tanzten gemächlich. Vielleicht war es auch anders, vielleicht waren diese Lichtstreifen das einzig Stetige und alles andere drehte sich im Kreis, sie selbst und die Insel um sie herum, warum nicht auch die ganze Welt. Nichts steht ewig still. Nur die Zeit in diesem Moment unter dem Leuchtturm.
    »Es ist wunderschön«, sagte Wencke und drehte den Kopf zu dem Mann an ihrer Seite. Eigentlich war sie zu glücklich, um sich zu bewegen, doch sie wollte es ihm sagen. Denn er war ein Hauptgrund für dieses gluckernde, kitzelnde Gefühl in ihrem Bauch.
    Seine Hand schob sich zwischen die Mauer und ihren Kopf; er fuhr ihr mit den Fingerspitzen zärtlich durchs Haar. »Ich war schon so oft hier, aber an deiner Seite ist es noch ein bisschen … überwältigender!« Und dann lächelte er. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Endlich waren sie dort angekommen, wo sie schon immer sein wollten.
    Heute Nachmittag hatten sich alle in der Waldkirche getroffen. Die Clique hatte nicht nachgegeben, sie hatten darauf bestanden, Leefkes Trauerfeier an ihrem Ort und nach ihren Vorstellungen abzuhalten. Der Steinaltar war mit bunten Blumen überhäuft, und die Holzbänke waren bis zum letzten Platz besetzt gewesen. Und daneben hatten sie gestanden, bis auf den Wall, eng an eng, es waren weit über hundert Leute gewesen, die Leefke Konstantin ein letztes Stück begleiteten. Einige hatten sich in das Kondolenzbuch eingetragen, hatten bedauert oder sogar tief bereut, dass sie nicht viel eher an der Seite des Mädchens gestanden hatten. Es waren Supermarktkassiererinnen und Busfahrer, Ärzte und Lehrer, Matrosen und Politiker, Alte und Junge. Und sie alle hatten eigentlich immer verstanden, worum es Leefke und den anderen gegangen war. Sie hatten nur nie ein Wort darüber verloren. Hatten geschwiegen, weil sie dachten, es sei nicht wichtig. Doch vielleicht würde es nun nie wieder so sein. Vielleicht hatte das tödliche Spiel von Wahrheit und Freundschaft ihnen gezeigt, dass jedes verständnisvolle Wort einen Menschen weniger einsam, weniger ängstlich machen kann.
    Die »Piraten« hatten gespielt. Oben am Steinkreuz hatten sie ihre Instrumente aufgebaut, und sie hatten nicht leise gespielt. Vielleicht waren sie dem einen oder anderen zu laut, es war egal. Philip und Jens, Wilko und Swantje, sie alle hatten gelacht, weil sie wussten, dass sie im Recht waren. Man durfte alles auf Leefke Konstantins Beerdigung: Man durfte rauchen und heulen, tanzen und schmusen, nur eines durfte man nicht: leise sein!
    Und zum Schluss war Pinki aufgestanden. Sie hatte einen rosaroten Zettel in der Hand, ein ziemlich mitgenommenes Stück Papier mit feinen Rissen und zerlaufener Tinte, doch es war nicht schlimm, denn sie kannte den Text. Ihre Stimme war fest, sie hatte für einen kurzen Moment Wenckes Blick gesucht, dann hatte sie vorgelesen:
    »Ruhestörung … von Leefke Konstantin!«
    Als sie nun daran dachte, hier unter dem Leuchtturm, da war sie froh, dass sie diesen Urlaub erleben durfte. Ansgar hatte sich nicht mehr bei ihr gemeldet, er kam morgen aus La Palma zurück, und sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie würde kein Streichholz ziehen müssen, um ihrem Schicksal auf die Sprünge zu helfen. Ihr war klar, was sie wollte. Es war das Verdienst der Insel, dass sie dieses Stück des Erwachsenwerdens nun auch geschafft hatte.
    »Wirst du wiederkommen?«, fragte er.
    Sie nickte. Er würde nicht viel Zeit haben. Die Häuser der Konstantins waren eine große Aufgabe für ihn,

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