Der Brombeerpirat
zur Unfallstation beobachtet, so wie er es immer und immer wieder getan hatte. Heimlich und mit Herzklopfen. Sorgsam und routiniert hatte sie Wencke die Wunde verarztet, ohne sich ihren weißen Kittel zu beschmutzen.
Als Wencke dann ihre Angaben über den Tathergang zu Protokoll geben musste, verließ Rika das Zimmer. Still folgte er ihr fast bis auf die Terrasse, wo sie sich eine Zigarette anzündete und jemanden mit ihrem Handy anrief.
»Keine Sorge, Schatz, ist nur eine oberflächliche Wunde. Du solltest deinem Bruder und seinem Kumpel aber mal ausrichten, dass sie ihr Ziel noch nie so gut erreicht haben wie heute, wo sie doch eigentlich daneben schießen sollten …« Sie lachte.
Telefonierte sie mit Jasper? Angeblich wusste doch niemand, wo er steckte. Und einen Bruder hatte er auch nicht, noch weniger ein Motiv, seine Schwester beschießen zu lassen.
Remmer hielt den Atem an und lauschte.
»… so weit ich weiß, nicht. Sie hat etwas von einer schwarzen Gestalt gefaselt, es hörte sich ziemlich verworren an. Mach dir mal keine Sorgen. Und die Polizei? … Hast du nichts gefunden im Haus? … Na ja, gut, ich mach mich dann auf den Weg nach Hause. Feierabend! Sehen wir uns noch? … Ach so, ist klar. Beerdigungsstress. Macht nichts. Bald haben wir es ja geschafft. Bin ich froh, wenn ich hier weg bin … Dito!«
Sie beendete das Gespräch und legte das Handy auf die Fensterbank. Dann zog sie heftig an ihrer Zigarette, und Remmer konnte sehen, dass sie dabei lächelte.
»Schwester Rika, kommen Sie bitte? Wir brauchen Sie auf Zimmer neun«, rief eine ungeduldige Männerstimme von drinnen.
»Hab schon Feierabend«, gab sie zurück.
Ein Arzt eilte mit hastigen Schritten zu ihr hinaus. »Hören Sie auf zu rauchen und kommen Sie mit. In drei Minuten ist es geschafft. Nur ‘ne Infusion. Also hopp!«
Als der Mann im weißen Kittel ihr den Rücken zuwandte, rollte sie die Augen und folgte ihm widerwillig. Remmer war es gelungen, sich schnell und unbemerkt in eine Nische zu drücken, und als sie im Krankenzimmer verschwunden war, schnellte er heraus, lief auf die Terrasse und griff sich das Handy.
Es war ihm bereits klar, dass sie nicht mit Jasper telefoniert hatte. Er drückte auf Wahlwiederholung. Auf dem Display erschien nur eine Nummer und der Buchstabe V. Er wählte, er wartete. Kurz nach dem Freizeichen ertönte eine sonore Männerstimme am anderen Ende der Leitung. »Was gibt’s denn noch?«, fragte V.
»Wer ist denn da?«, fragte Remmer.
»Konstantin«, lautete die Antwort. Remmer legte auf. Zugegeben, eigentlich hätte er auf dem Absatz kehrtmachen und dieses neu erworbene Wissen mit der Polizei teilen müssen. In jedem Fall hätte Wencke erfahren sollen, wer auf sie geschossen hatte. Doch der Schock saß tief. Fast mechanisch war er mit Wencke in die Eingangshalle gegangen, hatte Kaffee geholt, hatte Rika beobachtet, war mit den Polizeibeamten zu dem Ort gefahren, wo es passiert war, hatte die Geschosse gesucht, hatte Mittag gegessen, hatte sich in sein Taxi gesetzt, war losgefahren.
Und nun war er noch immer unfähig, seinen Wagen wieder in Gang zu bringen. Er stand mitten auf der Jann-Berghaus-Straße, hörte, wie der Regen auf das Wagendach prasselte, und wartete. Worauf? Auf eine Eingebung? Oder darauf, dass der Stachel der bitteren Enttäuschung aufhörte, in seiner offenen Wunde zu stochern?
Er stellte die Warnblinkanlage an. In das gleichmäßige Klicken gesellte sich das erste, bassige Grummeln des aufkommenden Gewitters. Noch Meilen entfernt, aber gewaltig und ein wenig Furcht einflößend. Er ließ seinen Kopf auf das Lenkrad fallen.
Die Wagentür öffnete sich, er spürte den Regen zur Seite hereinwehen. »Dürfen wir einsteigen?«, nahm er die schneidende Stimme einer Frau wahr.
»Ich warte auf einen Fahrgast«, sagte er, ohne den Kopf zu heben.
»Junger Mann, einen Heiermann extra, und Sie fahren uns bitte zum Hafen?«
Nun blickte er auf, sah eine fremde, faltige Touristin, die bereits ihr Portemonnaie gezückt hatte. Energisch griff er über den Beifahrersitz, bekam den Türgriff zu packen und zog daran. Die Frau sprang mit erschrockenem Gesicht zurück, stieß eine Beschimpfung aus, doch als die Tür zugefallen war, konnte er nur noch ihre runzligen Lippen auf- und zuklappen sehen. Er verriegelte die Wagentür. Er wollte seine Ruhe.
Hinter ihm hupte ein Lieferwagen, es kümmerte ihn nicht.
28.
Wencke war auf der Insel. Sie musste hier irgendwo sein. Wo könnte sie sich
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