Der Brombeerpirat
ich muss …«, presste sie zwischen den Lippen hervor. Dann schoben sich die Türen zur Seite, und Leefke stand ihr direkt gegenüber. Vielleicht hatte sie für einen Moment gezögert, die Station zu betreten, jetzt starrte sie Pinki nur an, ihre Freundin, schon immer, doch in diesem Augenblick vielleicht auch ihre schlimmste Feindin. Leefke zog an der Tür.
»Warte!«, rief Pinki ihr zu.
Leefke hielt inne. Doch dann stieß sie die Tür auf und betrat, ohne sich noch einmal umzublicken, die Unfallstation. Pinki war starr vor Schreck. Sollte sie umkehren? Oder sich in einer dunklen Ecke vor dem Unausweichlichen verstecken?
Es war zu spät. In diesem Moment sprachen die beiden miteinander. Rika und Leefke. Pinki war nicht in der Lage, richtig zu atmen, ihr war übel. Schwach setzte sie sich auf den kalten Fliesenboden vor den überdimensionalen Fenstern und zählte mit geschlossenen Auge die Sekunden, die Minuten. Doch es dauerte nicht lang, zuerst spürte sie den Luftzug, als Leefke die Stationstür öffnete, dann blickte sie ihrer Freundin in das vertraute Gesicht.
»Was ist passiert?«, brachte Pinki hervor.
»Sie hat keine Zeit. Irgendein Kegelbruder ist besoffen vor die kleine Bimmelbahn an der Promenade gelaufen und muss genäht werden. Ich bin nicht dazu gekommen, mit ihr zu reden. Sie will aber gleich herauskommen.«
Pinkis Körper entspannte sich, wie von einer schweren Last befreit, sie konnte Luft holen und wieder klar denken. Sie hatte es noch nicht ausgesprochen! Noch war alles zu retten!
»Lass uns auf das Dach gehen«, sagte Leefke knapp und nickte kurz in Richtung Treppenhaus. Pinki beneidete Leefke um die Sicherheit, mit der sie Dinge tat oder bleiben ließ.
Langsam und schweigend und ernster, als sie jemals etwas gemeinsam unternommen hatten, stiegen sie die Stufen hinauf. Sie wussten wahrscheinlich beide, dass sie erst wieder hinunterkommen würden, wenn endlich alles geklärt war. Es war wie der Gang zum Schafott. Galgenfrist für ihre Freundschaft.
Und erst als sie auf dem Dach standen, sich an die Mauer lehnten und nur dunkelblauer Himmel und ein käsiger Sommermond über ihnen waren, da war die Zeit für die Wahrheit zwischen ihnen gekommen.
»Hast du es Jasper erzählt?«, fragte Pinki mit ängstlicher, fast zitternder Stimme.
Doch Leefke schüttelte nur den Kopf. Sie konnte ihre Freundin atmen hören, das Meer unter ihnen war in dieser Nacht so still, auch das Reden und Lachen der Insel drang nicht zu ihnen. Keine Ruhestörung. Nur Leefke und sie.
»Hast du es irgendjemandem erzählt?«
»Nein, Pinki. Ist das denn die einzige Sorge, die du hast?«
Sie konnte und wollte darauf nichts erwidern.
»Ich werde es nur Jasper erzählen. Kannst du das nicht verstehen? Er ist ein so wunderbarer Mensch, er hat uns noch nie im Stich gelassen. Wie ein Pirat hat er auf dieser Insel den Erwachsenen ein wenig von ihrer Selbstgerechtigkeit abgenommen, und jede Errungenschaft hat er mit uns geteilt. Er war immer gerecht, er war immer mutig, er hat uns nie etwas vorgemacht. Und wir?«
Pinkis Blick fiel auf die Dächer unter ihnen, sie wusste, was darunter vor sich ging. Die Lichter in den Straßen, die kaum wahrnehmbare Musik aus den Häusern, die laue Seeluft, sie kannte dies alles und wusste auch, dass vieles von dem ein Trugbild war. Diese Insel war ihr Zuhause. Sie war mit alldem hier aufgewachsen. Vielleicht wäre sie auch nie auf die Idee gekommen, etwas davon infrage zu stellen, wenn sie nicht so viel Zeit mit Leefke, Oma Alide und Jasper verbracht hätte. Erst dann war ihr aufgefallen, wie viele Opfer diese heile Welt forderte.
Leefke holte tief Luft. »Wir igeln uns ein, wir stoßen ihn von uns, er ist uns mit einem Mal nicht eine Silbe Wahrheit mehr wert.«
»Er hängt doch selbst mit drin! Hätte ich ihm damals nicht von diesem Grapscher in der Silvesternacht erzählt, dann wäre dies alles nicht passiert. Wir haben einmal den Mund aufgemacht und uns beschwert, und daraus hat sich die ganze Katastrophe entwickelt. Warum konnten wir es nicht einfach alles auf sich beruhen lassen?«
»Weil es nicht funktioniert hätte, Pinki.« Sie würde Leefkes Blick, ihre hellen Augen in diesem Moment nie vergessen. Ihr war nun klar, dass ihre beste Freundin nicht einen Schritt zurück machen würde. Sie waren am Punkt der Entscheidung angelangt.
»Ich kann nicht damit leben, dass sie Oma Alide sterben ließen, bloß um an diese dämlichen Häuser und Grundstücke zu gelangen.«
»Aber es war Oma
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