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Der Brombeerpirat

Der Brombeerpirat

Titel: Der Brombeerpirat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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rannte die Stufen hinauf. Ein Blick nach oben ließ sie für einen Augenblick zweifeln, ob sie es überhaupt schaffen würde. Nicht nur diese endlose Treppe, vier Stockwerke hinauf, Stück für Stück auf glatten Stufen. Nein, sie wusste nicht, ob sie in der Lage war, ein verzweifeltes Mädchen am Rande der Endgültigkeit von ihrem Tun abzubringen. Doch das war es nicht, worauf es ankam, vielleicht würde Pinki sich dennoch und vor ihren Augen in die Tiefe stürzen. Sie sollte nur wissen, dass sie nicht allein war. Dass es jemanden gab, der mit ihr fühlte, dem etwas an ihr lag. Wencke wusste, es gab viele Menschen, denen es nicht egal war, wie es diesem Mädchen ging.
    Ihre Freunde, ihre Familie, aber auch zahlreiche Leute auf der Insel, an die sie in diesem Moment nicht dachte, ihnen allen würde es das Herz aus dem Leibe reißen, wenn sie sich für den Sprung in den Tod entschied. Wencke hoffte nur, dass es den anderen gelang, möglichst viele dieser Menschen zu erreichen. Vielleicht verstanden sie nicht, weshalb sie sich bei tobendem Gewitter vor der Maritim-Klinik versammeln sollten, vielleicht sagten sie, es sei Hauptsaison und somit keine Zeit für unsinnige, unverständliche Dinge. Doch wenn nur eine kleine Hand voll dort unten auf dem sandigen Boden stand, dann hätten sie eine Chance, dass Pinki begriff.
    Wenckes Füße fanden keinen Halt, der feine Sand unter den Sohlen ließ sie auf jedem Treppenabsatz rutschen und schlingern, sie stieß sich das Knie an der kalten, scharfen Kante einer Steinstufe, doch sie stand auf, zog sich mit dem schmerzenden Arm in die Senkrechte und rannte weiter.
    Armes, kleines Mädchen, du bist nicht so allein, wie du denkst. Du bist wertvoll, du bist auf deine einzigartige Weise wertvoll, bitte bleibe, wie du bist. Der stumme Schrei verhallte in ihrem Inneren. Wencke wurde bewusst, dass sie auch ein wenig sich selbst zu retten versuchte. Die Gedanken waren ihr nicht fremd, vielleicht war dies der Grund, dass sie nun zwei Stufen auf einmal nahm, um schneller voranzukommen. Sie sah sich selbst auf dem Dach stehen, unverstanden, verwirrt, ausgestoßen. Und unfähig, eine vernünftige Entscheidung zu treffen.
    Lass die Streichhölzer, wo sie sind. Du kannst es selbst entscheiden. Du selbst bist dein Schicksal, überlass es keinem anderen außer dir selbst.
    Und dann fand sie die Tür. Das Siegel war beschädigt, es musste also jemand auf dem Dach sein. Sie blieb stehen, eine Sekunde nur, einen Moment lang, den sie zum Atmen brauchte und um sich wieder zur Ruhe zu zwingen. Dann ging sie auf das Dach.
    Wie ein Faustschlag ins Gesicht traf sie die Gewalt des Sturmes, nahm ihr die Luft, sodass sie den Kopf zur Seite drehen musste. Der schneidende Regen schien ihr jeden weiteren Schritt verbieten zu wollen, doch sie setzte sich zur Wehr, missachtete die Naturgewalt und öffnete die Augen, obwohl jeder peitschende Tropfen, jeder grelle Blitz es ihr fast unmöglich machten. Und sie sah die Gestalt am Geländer stehen. Ein paar Knochen, blasse und nasse Haut spannte sich müde darüber, war sie überhaupt lebendig, oder wurde ihr Körper vom Wind an die Mauer gepresst?
    Dann erkannte sie die Glut der Zigarette, die sich wild entschlossen gegen die nasse Kälte des Unwetters behauptete und sich, von gierigen Lippen gesogen, in den Tabak fraß. Wencke blieb an der Wand, hielt sich am rauen Putz fest, so gut es ging, und tastete sich Stück für Stück an das Mädchen heran. Das Bombardement des Gewitters, die heranstürmende See, der angreifende Wind, sie alle machten einen weltuntergangsgleichen Lärm, sodass Pinki nicht wahrnehmen konnte, dass sie nicht mehr allein war.
    Wencke sah die Zigarette des Mädchens, winzig und haltlos flog das Glühen vom Sturm ergriffen ü ber die Mauer. Und sie konnte für einen Sekundenbruchteil ein abgebranntes Streichholz in der Mädchenhand erkennen. Dann schrie sie.
    Pinki hielt kurz inne, wischte sich über die Augen und blickte wild um sich. Wencke stürzte auf sie zu, war fast bei ihr, und doch musste sie laut gegen das donnernde Tosen um sie herum anschreien. »Ich bin da, Pinki, ich bin da!«
    »Wer bist du? Ich kann dich nicht sehen!«
    Doch sie stand bereits fast neben ihr, wollte nicht zu nah heran, wollte sie nicht zu einer fatalen Bewegung verleiten. Es fiel Wencke schwer, in diesem Chaos so etwas wie Ruhe zu verbreiten, doch sie musste es schaffen, sonst hatte sie verloren.
    »Ich will nicht, dass du es tust, hörst du?«
    »Es ist mir egal,

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