Der Bund der Drachenlanze - 08 Michael Williams
Vertumnus hob die Flöte an die
Lippen. Zuerst vorsichtig, dann immer spielerischer und
frecher begleitete er das Lied der Eule mit einer eigenen
Melodie. In den Pausen tanzten seine Finger nur so über
das Instrument. Hollis hob dem Schlafenden eine
schwammige, gelbe Masse aus Flechten an die Nase, und
über Vertumnus formte sich ein seltsamer Wirbel aus Nebel und Licht in der Luft zu einem blauen Zeichen für Unendlichkeit, als der erste der drei Träume zu Sturm kam
und die Heilung begann.
Er träumte, er läge in den nebelverhangenen Zweigen einer Eiche.
Sturm holte tief Luft und runzelte die Stirn. Er sah sich
nach Vertumnus um, nach Ragnell oder Mara oder Jack
Derry. Aber er war allein, und selbst von seinem luftigen
Aussichtspunkt gute vierzig Fuß über dem Waldboden sah
er nichts als Grün und Nebel.
Er war in Grün gewandet, in eine aus Gras und Blättern
gewebte Tunika.
Irgendwie wußte er, daß dies nicht der Finsterwald war.
»Und außerdem«, flüsterte er, »weiß ich irgendwie, daß
ich gar nicht wach bin.«
Rasch sprach er das Elfte und das Zwölfte Gebet, um vor
Hinterhalten im Land der Träume geschützt zu sein, und
kletterte vorsichtig vom Baum. Auf halbem Wege, an einem schwierigen Stück, hängte er sich an einen dicken, festen Ast und ließ dann – im Vertrauen auf die merkwürdige
körperliche Sicherheit im Traum – einfach los.
Er hatte recht. Von einem warmen Wind getragen, sank
er auf das trockene Gras und die Tannennadeln, als wäre er
in Wasser eingesunken. Zu seinem Erstaunen trug er wieder seine geerbte Rüstung, Schild und Schwert.
»Was ist denn das für eine Lektion?« fragte er laut. Denn
die alten Philosophen meinten, daß Träume Fragen beantworteten. Schnell sah Sturm sich nach Omen um, nach dem
Eisvogel, der eine Erhebung in den Orden bedeutet, nach
Schwert oder Krone.
»Grün«, befand er und setzte sich schwerfällig an einen
Eichenstamm. »Nichts als Grün über Grün und immer nur
Grün.«
Er stützte sein Kinn in die Hände, worauf urplötzlich ein
Pferd hinter einem dicken Wacholderstrauch wieherte.
Hellwach, das Schwert gegen mögliche Monster und Feinde und alle Traumdiebe erhoben, jagte Sturm wie der Wind
dem Geräusch entgegen… und die Zweige glitten an ihm
vorbei und durch ihn hindurch, ohne daß er etwas spürte.
Er stand am Rand einer Lichtung unter großen, behauenen Felsentürmen. Die Mauern um die einschüchternden,
schwarzen Steingebilde formten ein gleichseitiges Dreieck,
in dem an jeder Ecke ein kleiner Turm wie ein drohender,
schwarzer Bienenstock herausragte.
»Wayreth!« flüsterte Sturm rauh. »Die Türme der Erzmagier!« Es stand geschrieben, daß nur Eingeladene zu
ihnen vordringen konnten.
»Aber warum?« fragte Sturm. »Was soll ich im Zaubererland?«
Da hörte er die Stimmen, sah Caramon und Raistlin aus
den Bäumen reiten und unsicher vor den Türmen halten.
Ihre braunen Pferde tänzelten nervös. Sie waren so weit
weg, daß er sie weder verstehen noch ihre Gesichter sehen
konnte. Aber eine leise, tiefe Stimme raunte Sturm etwas
zu, als würde ihm ein altes Minnelied, eine Sage oder ein
Märchen vorgelesen.
Er fuhr herum und sah den Herrn der Wildnis, der zurück auf die Türme und die Zwillinge deutete und mit der
Geschichte fortfuhr.
»Die legendären Türme der Erzmagier«, sagte Raistlin und
musterte sie ehrfürchtig.
Die drei hohen Steintürme glichen Skelettfingern, die sich aus
einem Grab emporstreckten.
Vorsichtig und widerstrebend wandte sich Sturm wieder
der Traumszene zu, die sich zu Vertumnus’ Erzählung auftat. Während der Herr der Wildnis sprach, sah Sturm Caramon und Raistlin zu den Worten des grünen Mannes den
Mund bewegen.
»Wir können immer noch umkehren«, krächzte Caramon mit
heiserer Stimme.
Raistlin sah seinen Bruder erstaunt an.
Raistlin drehte sich zu Caramon um. Sturm schüttelte
heftig den Kopf, um ihn irgendwie von Spinnweben und
Träumen und dunklen Einflüsterungen zu befreien.
Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, fuhr Vertumnus fort, erlebte Raistlin, daß Caramon Angst hatte. Der junge
Zauberer empfand eine ungewöhnliche Gefühlsregung – Wärme
breitete sich in ihm aus. Er streckte seine Hand aus und legte sie
auf den bebenden Arm seines Bruders. »Hab keine Angst«, sagte
Raistlin. »Ich bin bei dir.«
Caramon sah Raistlin an und lachte nervös auf. Dann spornte
er sein Pferd wieder an.
Wie durch die Worte gelenkt, drehten sich Caramon und
Raistlin
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