Der Bund der Drachenlanze - 08 Michael Williams
Seine Hand konnte er
nicht heben. Also schloß er die Augen und ruhte in der sicheren Obhut der Frau und ihres Liedes. Er sah nichts als
Grün und Grün, und als er einschlief, träumte er von Blättern und Frühling und Wurzeln tief in der Erde.
Es schien hundert Jahre her zu sein. Es schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Und doch war er hier im Südlichen
Finsterwald, Gefährte von Dryaden und Eulen und dieser
schönen, geheimnisvollen Frau. Sie hatte ihm sein Leben
geschenkt, hatte ihn zum Blühen gebracht. Sie hatte ihm
die Flöte und das Wissen um die Weisen gegeben.
Und jetzt gab es andere – andere, die sein Leben und sein
Reich bedrohten. Inzwischen kannte er sie und konnte ihnen vergeben. Aber Vergeben hieß nicht Ergeben: Der Finsterwald wuchs in seinem Blut und war unwiderruflich
sein.Sein Lied war vorüber und stieg durch die mondhellen
Zweige der Vallenholzbäume auf. Langsam, fast liebevoll,
beugte sich Vertumnus über den Jungen, der auf den Karren gebettet war, und flüsterte Sturm etwas zu, das niemand, nicht einmal die Dryaden, hörte.
Jahre später, im Turm des Oberklerikers, in der Kälte des
späten Februars, würde Sturm sich im Schlaf dieser Worte
entsinnen. Beim Aufwachen würde er sie nicht aus dem
nebligen Land seiner Träume mitbringen und auch nicht
lange nachdenken, um sich zu erinnern, denn Derek würde
am finsteren Tag zuvor scharenweise Ritter in das Gemetzel geführt haben, und der Morgen würde von Waffengeklirr und Vorbereitungen erfüllt sein.
Doch die Worte waren einfach. »Du kannst wählen«, hatte Vertumnus gesagt. »Letzten Endes kannst du immer
wählen.«
»Er wird es doch überleben, Vater?« fragte Jack besorgt.
Evanthe schob ihren Arm in seinen und küßte ihn frech mit
aufgeworfenen Lippen hinter das Ohr.
»Auf die eine oder andere Art wird er überleben«, erklärte Vertumnus. »Wenn die Lady ihn gut pflegt. Jetzt sing,
Evanthe. Diona, sing mit deiner Schwester. Während wir
den Jungen zu Hollis bringen, singt ihr das Lied des Waldes.«
Mit plötzlicher Durchtriebenheit drehte er sich zu Jack
um: »Du singst auch, Jack. Du hast die schöne Tenorstimme deines Vaters genau wie seine Schwerthand. Solltest du
jedenfalls, denn seine Hand und Stimme lassen nach.«
Jack kletterte lächelnd auf den Kutschbock des Karrens,
ließ seine Sorgen am schweren Fuß der Eiche zurück und
begann zu singen. Er hatte wirklich einen schönen Tenor.
Der Karren setzte sich in Bewegung, Jack hielt die Zügel,
und die Dryaden, die auf den Hälsen der Pferde saßen,
stimmten süß und leise mit ein.
Jack Derry sang, und sein Vater begleitete ihn. Seine Flöte
blitzte über die Noten und die Pausen zwischen den Noten
hinweg. Wäre Mara dabeigewesen, so hätte sie an der ausgefeilten Technik, mit der er die Pausen der Musik und
zwischen den Worten ausfüllte, sofort als die Magie erkannt, die darin steckte. Der Wagen verließ die Lichtung,
das Blätterdach schloß sich darüber, und bald lagen Lichtung und Teich still da. Nur in der Ferne hörte man noch
das leise Singen und den hellen und heimlichen Klang der
Flöte.
In einer der Pausen zwischen den Zeilen löste sich
Sturms Schwert aus dem Baum und fiel auf die Erde. Die
Wunde, die es dem Holz geschlagen hatte, heilte augenblicklich, und aus allen Zweigen sprossen neue Blätter hervor. Als die Musik wieder anhob, diesmal nur schwach
und kaum noch hörbar, wurden zwei Knoten am Stamm
erst dunkel, dann feucht, dann glitzerten sie, als der Baumhirte erwachte und seine uralten Augen aufschlug.
Kapitel 7
Der Traum der Lerche
Sturm dämmerte halbwach vor sich hin, als der Karren tiefer in den Wald fuhr. Wenn er die Augen aufschlug, sah er
ein dunkelgrünes Blätterdach und glaubte, es wäre Nacht.
Er mußte den Tag verschlafen haben.
Aber wohin fuhr er? Und von wo? Er konnte sich nur
noch vage an die Ereignisse des Morgens erinnern – irgend
etwas mit einem laufenden Baum, einem bewaffneten Gegner. Auch an Vertumnus erinnerte er sich, und es tauchte
immer wieder ein unklares Bild um ihn auf, wie Jack Derry
auf einem Streitwagen aus Weidenholz auf eine Lichtung
gefahren war.
Umwölkt von Grün und Fieber, döste er wieder ein. Seinen Schlaf störten nur irgendwelche Liedfetzen, ein fernes
Lied ohne Echo, gedämpft, als käme es aus dem Inneren
einer Lampe oder einer Flasche.
Mit geschlossenen Augen lauschte er einen kurzen Moment. Rastlos lief der Schatten einer kupferroten Spinne vor
seinem inneren Auge herum, wie
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