Der Bund der Drachenlanze - 08 Michael Williams
verzweifelte Truppe an den
Toren an. Ein grauer Sergeant an der Spitze der Kolonne
sah zu den Zinnen hoch, und seine Augen trafen sich mit
denen von Sturm, als Vertumnus die unausweichliche, düstere Geschichte erzählte.
Mit den Rüstungen und Schwertern und Spießen sahen sie
klein und zerbrechlich aus, als sie sich versammelten, mit den
Füßen aufstampften, um die Kälte zu vertreiben, und sich hinter
den Rittern auf Pferden aufreihten. In der ersten Kolonne konnte
ich Breca ausmachen, da er einen Kopf größer war als die anderen. Einmal glaubte ich, daß er zu dem Fenster aufschaute, an
dem ich stand, und ich meinte, die Ausdruckslosigkeit in seinen
Augen zu erkennen, trotz der Entfernung…
Denn wenn ein Ausdruck nichtssagend sein kann, ohne Angst,
Entsetzen und Hoffnung, wenn er überhaupt nur noch Niedergeschlagenheit und Entschlossenheit enthält, dann war das Brecas
Ausdruck und der seiner Gefährten, der aussagt: »Es ist nicht so
schlimm, wie ich mir das vorgestellt habe, aber schlimmer, als ich
erwartet habe.« Und nichts weiter sagte dieser Ausdruck, während sich die unheilvollen Tore öffneten… »Keine Angst,
Sturm«, flüsterte Vertumnus, dessen Augen sich drehten
wie Monde, die aus ihrer Umlaufbahn geschleudert wurden. »Ich bin bei dir. Verstehst du, Sturm? Verstehst du es
jetzt?«
»Ich… ich glaube«, sagte Sturm in den glitzernden Blick
des Herrn der Wildnis. »Nämlich… daß sogar Eid und
Maßstab von… von Wahnsinn verraten werden können.«
»Nein«, sagte Vertumnus, dessen Stimme wie ein Flüstern durch Sturms Gedanken ging. »Das ist noch nicht alles.« Wieder lächelte er, doch dieses Mal böser. »Du
siehst… Eid und Maßstab sind der Wahnsinn!«
Vertumnus packte Sturm an den Schultern und drehte
ihn zu der Armee hin, die sich unter ihnen zusammenscharte. »Das sind die, die der Maßstab umbringt«, flüsterte
er eindringlich, als die Soldaten unsicher ihre Waffen ausprobierten. »Das ist das Blut, auf dem deine Ehre
schwimmt, es sind die Knochen, auf denen dein Kodex
steht. Dieses riesige solamnische Spiel ist immer bei uns, so
einfach und vergiftet wie unser eigenes, stolzes Herz!«
So spricht ein Verrückter, dachte Sturm, der aus dem
Traum in eine beunruhigende Dunkelheit fiel. Sturm würde nie erfahren, wie lange er geschlafen hatte.»Nun gut«,
erklärte die Druidin.
Der Nachmittag war in Abend übergegangen. In der Ferne war der Wald von den Rufen der Nachttiere erfüllt, und
über der Lichtung glänzten die ersten Sterne: die grüne
Harfe von Branchala und der rote Sirrion, der wie eine
brennende Galeere in die Weite des Himmels trieb.
Hollis sah zu Vertumnus hoch. Ihr Gesicht war noch jünger als zu Beginn der Heilung. »Er hat die ersten zwei
Träume überlebt. Der dritte ist leicht, wenn er den Willen
und den Mumm dazu hat.«
»Keiner von ihnen ist leicht, Hollis«, erwiderte Vertumnus mit merkwürdigem Lächeln. »Du bist nicht aus Solamnia, darum erscheint dir der Traum der Wahl leichter als
die anderen. Tatsächlich aber ist es für Sturm der schmerzlichste.«
In der Ferne fing die Lerche zu singen an. Hollis nickte
ernst und berührte Sturms Augenlider mit einer Rose, die
zwei Blüten hatte – die eine rot, die andere grün wie ein
Blatt. Vertumnus begann, auf der Flöte zu spielen, und
während er das tat, schob sich der silberne Solinari über die
Lichtung und ließ die Blätter des Vallenholzbaums und der
Eiche, die Stechpalmenkrone der Druidin und die grünen
Locken des Herrn der Wildnis glitzern.
Kapitel 8
Der letzte Traum
Das Vogelgezwitscher erklang durchdringend schrill über
ihm – Eichelhäher und Sperling, die abfallenden Töne des
Rotkehlchens und hoch über allem das Lied der Lerche, das
seine Ohren noch verfolgte, als er sich bewegte und der
Gesang erstarb.
Sturm setzte sich auf und sah sich um. Er war an dem
Ort, zu dem sie ihn gebracht hatten, so viel erkannte er in
seinen fiebrigen, unruhigen, wachen Momenten. Da war
der Teich, da die Eiche, da die grasbewachsene Lichtung in
der Sonne, aber Vertumnus und seine Begleiter waren verschwunden – kein Jack Derry, keine Dryaden, keine Druidin. Sturm lag allein unter der Eiche. Schwert und Rüstung
lagen säuberlich neben ihm wie eine leere Schale oder ein
verlassener Kokon.
Er streckte die Hand aus und berührte den Brustharnisch. Der bronzene Eisvogel war unnatürlich warm, und
er war grün angelaufen, als hätte die Rüstung lange niemand mehr poliert.
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