Der Bund der Drachenlanze - 09 Ellen Porath
vor und holte einen purpur fa rbenen
Seidenschal aus einer Ledertasche unter dem Tisch und
einen mit Gold emaillierten Krug aus einer Nische in der
Höhlenwand hervor. Die Flüssigkeit, die Kai-lid aus dem
Krug in die Schale goß, schien gewöhnliches Wasser zu
sein; es stammte aus einem nahen Fluß, der westlich von
Haven in den Weißen Fluß mündete. »Ein Fluß, der am
Rand des Düsterwalds entspringt«, murmelte Kai-lid ehrfürchtig.
Während sie das Wasser in die Schale goß, sah sie zu, wie
das Edelweiß erst verschwamm und dann wieder scharf zu
sehen war, als sich das Wasser beruhigte. »Mit der Stille
kommt die Klarheit«, begann sie mit den rituellen Worten,
die Janusz selbst ihr vor Jahren beigebracht hatte. Mit
schlanken Fingern malte sie Zeichen in die Luft und legte
den Schal, der die Farbe dunkler Trauben hatte, über ihren
Kopf und die Schale. Ihre Daumen hielten die Ecken des
Schals fest, doch die Finger bewegten sich weiter, während
sie den Zauber wirkte. Sie schloß die Augen, um sich zu
konzentrieren.
»Klarwalder kerben. Annwalder kerben«, murmelte sie. »Katyroze warn. Emlryroze sersen. Enthülle, enthülle.«
Sie machte die Augen auf und wartete. Zuerst geschah
gar nichts. Dann trübte sich das Wasser, bewegte sich und
veränderte sich, als sei es eine Gewitterwand. Das gleiche
Graublau leuchtete in ihren Augen. Sie ließ den Schal los.
Die Seiten fielen um ihren Kopf, bildeten jedoch ein Ze l t
über der Schüssel. Ihre linke Hand zog den Schildpattknopf
aus der Tasche, den sie in dem Eingang in Haven gefunden
hatte. »Ich suche den, dem dieses Ding gehört«, flüsterte
sie. »W i ldrag-meddow, jonthinandru. Enthülle.«
Bei dem Befehl klärte sich das Wasser in der Schale, doch
von dem goldenen Edelweiß an seinem Grund war nichts
mehr zu sehen. Statt dessen sah man ein Waldstück. Kai-lid
unterdrückte einen Freudenschrei. Da war der Halbelf, der
einen Fuchswallach durch den grauen Morgen lenkte, und
hinter ihm Kitiara Uth Matar und der andere Söldner auf
schwarzen Pferden. Ein gähnender Junge, der an einem
langen Brötchen knabberte, ritt hinter ihnen her. Die kleine
Gruppe war in ein Gespräch vertieft, doch Kai-lids Suchzauber gestattete ihr nur zu beobachten, nicht mitzuhören.
Sie sah ein Stirnrunzeln auf dem Gesicht des Halbelfen, als
dieser Pflanzen beiseite drückte, in der Erde herumstocherte und in der Hocke mit den Ellenbogen auf den Knien den
Boden absuchte.
Kai-lid beobachtete sie einige Zeit, weil sie hoffte, sie
könne aus der Umgebung schließen, wo genau sich die
Gruppe befand. Natürlich nicht im Düsterwald, aber auf
jeden Fall in dieser Gegend. Sie sah Ahorn, Eichen, Platanen, Pinien und Unterholz aus jungen Ahornbäumchen.
Die dichten, niedrigen Büsche verrieten Kai-lid, daß die
vier nah am Waldrand waren, wo das Sonnenlicht Bodenpflanzen besser erreichen konnte.
Plötzlich sah sie, wie der Halbelf erstarrte und sich vorbeugte, weil sein Blick auf dem Boden etwas entdeckt hatte.
Seine ganze Haltung veränderte sich. Er war nicht mehr
nur wachsam, sondern er handelte. Er sprang vom Pfad
und nach rechts. Er zeigte auf etwas am Boden – einen
Fußabdruck? –, während die beiden Söldner auf ihren
Pferden abwarteten und der kauende Knappe schluckte.
Dann zeigte der Halbelf nach rechts, praktisch in die entgegengesetzte Richtung, die, aus der sie gekommen waren.
Die Söldner saßen sichtlich ungeduldig im Sattel, als der
Halbelf zu seinem Pferd zurückging. Die Gruppe machte
kehrt.
»Sie verfolgen etwas«, sagte Kai-lid. Sie wartete noch einige Augenblicke, bevor sie nickte. »Morgmegh, mortrhyan, m erhet . Schluß jetzt.«
Das Wasser war wieder Wasser, die Schale nur eine Schale, das Edelweiß glänzte wie zuvor am Boden. Sie warf den
purpurroten Schal zurück und spürte, wie er sich um ihre
Schultern schmiegte. Kai-lid legte die plötzlich müden
Hände an die Schläfen. Ihre schwarzen Haare fielen wie
Seide vor, und ihre Aufregung kämpfte mit ihrer Müdigkeit. Xanthar wartete schweigend am Eingang zur Höhle.
Aus den Geräuschen konnte er schließen, daß sie fe rtig
war, doch er wußte auch, daß Beobachten sie immer erschöpfte.
Schließlich hob sie den Kopf und ging zum Vorhang. Ein
orangefarbenes Augenpaar musterte sie besorgt. »Ich habe
sie gefunden«, sagte sie ruhig.
»Ich habe nachgedacht. Vielleicht sollten wir es bleibenlassen«, unterbrach sie der Vogel. Er wetzte zweimal seinen
Schnabel am Granit
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