Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
Längsseite des Gebäudes entlang in Richtung Turm. Seine scharfen, klaren Augen sahen jeden Zweig und jedes trockene Blatt. Hinter ihm konzentrierte sich Will nach langen Jahren der Übung ausschließlich darauf, seine Füße genau in die Abdrücke zu setzen, die Thraun hinterließ. Er konnte die Fährte in der Dunkelheit gerade eben erkennen.
Die beiden Männer bewegten sich wie Geister durchs Kolleg. So leise, dass jemand, der zwei Schritt entfernt war, sie nicht bemerkt hätte, wenn er ihnen den Rücken zugewandt hätte. Sie blieben an der Ecke des langen Testraumes stehen und betrachteten den Turm. Hinter drei Fenstern brannte Licht, und neben der Haupttür hingen Laternen. Das Erdgeschoss war völlig dunkel, doch zwischen
ihnen und dem tieferen Schatten lagen dreißig Schritt offenes Gelände.
»Irgendwelche Vorschläge?«
»Ich hätte eine Idee«, meinte Thraun.
Erienne legte den bewusstlosen Meister des Turms ganz hinten in eine Ecke der geräumigen Bibliothek und vergewisserte sich, dass er es so bequem wie möglich hatte.
Sie hatte schnell und entschlossen gehandelt. Ihr rechter Haken hatte ihn direkt unterm Kinn getroffen. Er war zusammengebrochen, sie hatte ihn aufgefangen und den Bewusstlosen durch die Bibliothek geschleppt. Sie keuchte, weil sie die Anstrengung nicht gewohnt war. Nachdem die Tür geschlossen war, wirkte sie einen leichten Schlafzauber, der ihn die ganze Nacht ausschalten sollte.
Danach erst wurde ihr bewusst, was sie getan hatte, und sie ließ die Schultern hängen. Sie zog sich einen Schreibtischstuhl heran und ließ sich darauf fallen, schlug die Hände vors Gesicht und stemmte die Ellenbogen auf den Tisch. Tränen brannten in ihren Augen.
Es war schlimm, dass der Meister des Turms ihre Unterhaltung mit Thraun und Will gehört hatte. Sein Verdacht allein hätte schon ausgereicht, um sie aus dem Kolleg zu verstoßen. Doch dass sie ihn geschlagen und dann mit einem Spruch außer Gefecht gesetzt hatte … man würde ihr Gehirn in Stücke reißen. Ihre einzige Hoffnung bestand jetzt darin, der Gefangennahme zu entgehen und darauf zu hoffen, dass die Begleitumstände ihrer Vergehen die spätere Strafe mildern mochten. Wie auch immer, sie konnte sich nie wieder in Dordover und im Kolleg blickenlassen.
Nachdem sie sich ein paar Minuten lang gesammelt hatte, kniete sie sich neben den Meister des Turms und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Es tut mir leid. Aber im Grunde bist du einfach nur ein alter, alter Mann. Bitte verzeih mir.« Sie erhob sich. »Es ist kein Verrat. Ich versuche, uns alle zu retten.« Der Meister des Turms lag still, das regelmäßige Heben und Senken des Brustkorbs war das einzige Anzeichen, dass er überhaupt noch lebte.
Erienne zog den schweren Vorhang ein Stück zur Seite und runzelte überrascht die Stirn. Inzwischen war es draußen völlig dunkel geworden. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie so viel Zeit in der Bibliothek vertrödelt hatte, und es gab eine Frage, die noch nicht beantwortet war. Sie eilte zu einem Regal und zog einen dicken Band heraus. Sie blätterte die Seiten durch und suchte nach den Informationen, die sie brauchte.
Denser drehte das Abzeichen des Kommandanten vom Understone-Pass, das er Travers abgenommen hatte, hin und her. Im schwachen Licht konnte er nicht mehr viel erkennen, und so verstärkte er sein Sehvermögen mit einem Spruch.
Das Abzeichen war schlicht, doch seine Bedeutung für das Überleben Balaias war unermesslich. Es bestand aus einer Legierung von Gold und Stahl, war ungefähr drei Viertel so groß wie seine Handfläche und mit einem eingravierten Blättermuster eingefasst. In der Mitte zeigte eine feine Gravur den südlichen Eingang des Passes, auf der Rückseite waren die Namen der früheren Kommandanten festgehalten.
Es war das erste Mal, dass Denser das Abzeichen genau untersuchte, und er hätte es eigentlich faszinierend finden müssen, zumal es nun eine so wichtige Rolle spielte. Doch während er es abwesend in den Händen hin und her drehte, wanderten seine Gedanken immer wieder zu seinem
Hausgeist. Er hatte den Kontakt zu dem Wesen verloren, und die Einsamkeit und die Ungewissheit, was dessen Schicksal anging, waren nur ein Vorspiel für die Qualen des Todes. Er glaubte, schon die Furcht des Wesens spüren zu können, den Zorn und die Einsamkeit, und das verzweifelte Heulen, das zu hören sein würde, wenn es verschied. So weit durfte es nicht kommen.
Sol stand in der Nähe,
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