Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
im Lager vorzufinden und war enttäuscht, als es verlassen war. Doch als er auf den Lagerplatz ritt, wurde deutlich, dass irgendetwas nicht stimmte. Das Feuer war nicht gelöscht und abgedeckt. Ein kleiner Stapel trockener Zweige lag daneben. Die hätte man eigentlich für das nächste Lagerfeuer mitnehmen müssen. Hirad stieg ab und sah sich um.
Es gab keine Kampfspuren, doch der Rabe war in großer Eile aufgebrochen. Der Schlamm war von Hufabdrücken aufgewühlt, als wären die Pferde im Galopp geritten worden. Hirad hockte sich stirnrunzelnd hin, fuhr mit den behandschuhten Händen durch den Schlamm und sah Thraun fragend an. Der große Wolf stand bei seinem Rudel und beobachtete ihn.
»Was ist hier passiert, Thraun?«, fragte er.
Er ging ein Stück in die Richtung, in die sich die Pferde bewegt hatten. Dann sah er es. Der Boden war nicht aufgewühlt, weil die Pferde galoppiert waren. Es lag daran, dass mehr als drei Pferde im Lager gewesen waren, als der Rabe aufgebrochen war. Viel mehr. Hirad sah die breite Spur der Hufabdrücke, die zum Waldrand führte.
Sie waren also gefangen genommen worden. Er ignorierte Thrauns Knurren, stieg auf und ritt den Weg hinunter, den die anderen Pferde in den weichen Untergrund getrampelt hatten. Wohin sie auch geritten waren, er musste ihnen folgen und sie befreien. Er konnte sie nicht als Gefangene ihrem Schicksal überlassen. Sie waren der Rabe.
Und er auch.
18
Nach den heftigen Unwettern der letzten Tage strömte der Fluss Arl inzwischen wieder vergleichsweise gemächlich dahin. Die Meerulme fuhr mit der Flut im Rücken durch ruhiges Wasser stromaufwärts. Alle Segel waren gesetzt, der Wind wehte stetig nach Norden und parallel zu den baumbestandenen Ufern. Nach einer Weile wichen die Bäume den sanften Hügeln im Westen und mächtigen Klippen im Osten, dahinter lag wieder ein weites Flachland, das sich über viele Meilen bis zum Arlen-See erstreckte.
Vom südlichsten Punkt bis zum Nordufer war der See von Wäldern umringt, die bis in die steilen, mit Schnee bedeckten Berge hinaufreichten. Es war ein idyllischer Anblick, dessen Schönheit höchstens noch vom Triverne-See übertroffen wurde. Die Hafenstadt Arlen lag am Westufer. Den Tiefwasserhafen konnten sogar seetüchtige Schiffe anlaufen, die Fischereiflotte fand in einem kleineren Hafen Schutz, und die Schiffe, die auf Reede lagen, wurden von Booten bedient, die mit Ladekränen ausgerüstet waren.
Wer vom Meer hereinkam, sah die Stadt auf einem niedrigen Hügel vor sich liegen. Hoch darüber schimmerte im Morgenlicht der weiße Sandstein der Burg, auf deren vier Türmen Flaggen gesetzt waren. Heute aber war das Weiß gedämpft. Seit einer halben Ewigkeit hatte sich die Sonne nicht mehr in Balaia blicken lassen. Niedrige, Regen führende Wolken zogen fast unablässig über den Himmel. Es hatte sich stark abgekühlt, und viele Vögel waren vorzeitig in den Süden geflogen, da die Insekten rasch eingegangen oder gar nicht erst geschlüpft waren. Bäuerliche Gemeinden berechneten die Verluste durch schlechte Ernten und machten sich auf eine Hungersnot im kommenden Jahr gefasst.
Erienne stand im Bug der Meerulme . Immer noch wallten nach dem Mana-Angriff Nebelschleier in ihrem Kopf. Sie hatte ihre Reserven noch nicht ganz wieder aufgebaut, und ihre Gefühle waren widersprüchlicher denn je, seit sie Lyanna allein auf Herendeneth zurückgelassen hatte.
Wenigstens hatte sie jetzt das Gefühl, etwas unternehmen zu können, um die Sicherheit ihrer Tochter zu gewährleisten, und sie konnte nicht leugnen, dass sie sich sehr darauf freute, Denser bald wiederzusehen. Umso stärker war aber auch ihre Sehnsucht geworden, Lyanna wieder in die Arme zu schließen, im Obstgarten zu sitzen und ihrer wundervollen Tochter beim Spielen zuzuschauen oder ihr Geschichten aus ihrem Lieblingsbuch vorzulesen. Jeden Morgen waren Eriennes Wangen feucht von Tränen. Der Schlaf löste die mühsam errichteten Mauern auf. In den letzten drei Tagen, seit ihre Mana-Fähigkeiten beeinträchtigt waren, hatte sie noch eine weitere Emotion kennen gelernt. Furcht.
Furcht, dass sie vielleicht nie wieder fähig wäre, einen ordentlichen Spruch zu wirken. Furcht vor einer Isolation,
die schrecklich und unerträglich werden würde. Furcht vor dem, was sie in Arlen vorfinden mochte. Wenn Ren’erei Recht behielt, dann gingen die Schwarzen Schwingen wieder um, und Selik lebte noch. Er war Travers’ rechte Hand gewesen und hatte das gleiche fanatische
Weitere Kostenlose Bücher