Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
verneigte sich und berührte die Stirn mit dem Zeigefinger.
Etwa eine Viertelmeile vor der schroffen Nordküste der Insel ging das Schiff vor Anker. Nur die zähesten Pflanzen konnten sich an diese turmhohen Felsen klammern. Unablässig schlugen die Wellen gegen den harten Stein. Ein paar Vögel zogen am Himmel ihre Kreise, die Schreie verloren sich in der Brise.
Kaum dass der Anker geworfen war, setzte die Mannschaft drei lange Beiboote aus. Sicherungsnetze und Leitern folgten, und dann wurden Gepäck und Vorräte auf zwei Boote umgeladen und verzurrt. Jedes Boot hatte vier Ruderer und einen Steuermann. Erienne wurde gebeten, eine Leiter hinabzuklettern, Lyanna durfte sich auf Tryuuns breite
Schultern setzen. Sie war still und bleich, als der Elf rasch ins Boot stieg, das sie an Land bringen sollte.
Die Ruderer legten sich kräftig ins Zeug und hielten auf den Strand zu, an dem es anscheinend keine Möglichkeit zum Anlegen gab. Doch als sie eine Landzunge umrundet hatten, tauchte ein schmaler Streifen Kies auf, wo sie außer Sicht vom Schiff an Land gehen konnten. Von dort führte ein Weg nach oben und verschwand in einer Felsspalte. Ren’erei half Erienne und Lyanna aus dem Boot und sah lächelnd zu, wie sie durch die kalte Brandung hüpften, um den Wellen zu entgehen. Bis über die Knie durchnässt, standen sie schließlich am Strand.
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte sie. »Wir müssen noch einmal klettern. Die Besatzung bringt eure Sachen hoch.«
Der Weg war gut unterhalten, die Stufen waren breit und sorgfältig aus dem Fels gehauen, und der Anstieg war nicht sehr steil. Sie kamen auf einem sanft geneigten Hang heraus, auf dem einige Birken standen.
Als sie zurück zur Treppe blickte, konnte Erienne das Ausmaß der Illusion erkennen. Es war keineswegs eine unwirtliche Felsinsel. Die Landestelle war schwierig zu erreichen und von gefährlichen Riffen umgeben, aber die Höhe der Klippen lud zu Fehleinschätzungen förmlich ein, und hinter der Küstenlinie führte das Land leicht bergauf bis zu einem kleinen Gipfel. Dazwischen lagen verstreute Felsblöcke, und ein dichter grüner Wald fing die Tageshitze ein. Wenn man aus dem Seewind heraus war, wurde die Luft feucht. Erienne begann bald am ganzen Körper zu schwitzen.
Lyanna trabte neben ihr, hielt ihre Puppe in einer Hand und summte vor sich hin, während sie sich aufmerksam umsah.
»Alles in Ordnung, Liebes?« Erienne strich Lyanna über den Kopf.
»Ja«, bestätigte das Mädchen. »Können wir wieder das Wanderlied singen?«
Erienne lächelte. »Ja, wenn du willst.« Sie bot ihr die Hand, die Lyanna fest packte. »Also los«, sagte Erienne und machte etwas kürzere Schritte.
»Erst ein Schritt mit meinem rechten Fuß,
Der Linke folgt dann hinterher.
Wenn ich das noch einmal mache,
Dann ist die Reise bald vorbei.
Wenn ich den linken Fuß nicht rühre,
Dann läuft der Rechte mir davon.
Wenn ich den Rechten nicht bewege,
Dann bleiben wir hier stehn.«
Sie wiederholten die Worte immer wieder, während sie hüpften und Doppelschritte machten. Erienne wurde rot, als sie sah, wie Ren’erei und Tryuun sich über die Schulter umsahen. Die Elfen lächelten, und als sie sich wieder umdrehten, machte Ren’erei die Doppelschritte nach, die das Lied verlangte.
»Eines Tages seid ihr auch mal dran«, sagte Erienne und stimmte in das Lachen ein.
Lyanna sprang nach vorn zur Elfenfrau und nahm ihre Hand.
»Du machst das nicht richtig. Mami, sing noch einmal.«
»Na gut, nur einmal noch«, sagte Erienne. »Ren’erei, pass gut auf.« Während sie sang, beobachtete sie ihre Tochter, die unbeschwert kicherte, als sie Ren’ereis Versuche sah, die Schritte nachzuahmen. Sie wünschte sich inbrünstig, Lyanna sei ohne die Bürde geboren, die sie
trug. Und damit regten sich auch wieder die Schuldgefühle, denn Erienne hatte ja genau dies geplant. Es war ein gewaltiges Ziel, das sie erreichen wollten, und bevor sie so weit waren, gab es noch viele Schwierigkeiten zu überwinden. Lyanna hatte in dieser Angelegenheit natürlich keinerlei Entscheidungsfreiheit. Erienne trauerte jetzt schon um die Kindheit, auf die ihre Tochter verzichten musste.
Lyanna ließ Ren’ereis Hand los, trabte weiter und sang eine mehr oder weniger gelungene Abwandlung von Eriennes Wanderlied. Ein paar Schritte vor ihr verschwand sie hinter einer Biegung des von Bäumen gesäumten Weges. Erienne beschleunigte sofort ihre Schritte, sobald das Lied abbrach. Als Lyannas Schrei die
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