Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
Kanäle ändert sich. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, und man muss sich behutsam bewegen. Unsere Karten müssen bei fast jeder Reise korrigiert werden. Nicht sehr viel, aber deutlich genug, damit wir ständig wachsam bleiben.«
»Werden wir morgen an Land gehen?«, fragte Erienne.
»Ich will auf dem Sand laufen!«, unterbrach Lyanna sie unvermittelt. Sie trank einen Schluck Tee. Die junge Elfenfrau lächelte und schüttelte den Kopf.
»Dort, wo wir hinfahren, gibt es keinen Sand, meine Prinzessin. Morgen noch nicht. Aber eines Tages nehme ich dich zum Sandstrand mit, das verspreche ich dir.«
Erienne sah die Wärme in Ren’ereis Blick.
»Hast du Kinder?« Erienne streichelte Lyanna übers Haar. Das Kind wich ein wenig zurück und konzentrierte sich wieder auf den Tee. Man vergaß nur zu leicht, wie viel sie bereits begriff und welche Kräfte in ihr schlummerten.
»Nein«, sagte Ren’erei. »Ich hätte aber gern welche. Meine Aufgaben führen mich zu Orten, an denen ich die Aufmerksamkeit von Männern nicht gebrauchen kann, aber das wird nicht immer so bleiben.«
»Du wärst sicher eine gute Mutter«, sagte Erienne.
»Ich kann es nur hoffen«, erwiderte die Elfenfrau. »Vielen Dank jedenfalls.«
Die Nacht blieb ruhig, und die Mannschaft genoss die Pause, so gut es eben möglich war. Sie wussten nur zu genau, dass am folgenden Morgen neue Anstrengungen auf sie warteten. In der morgendlichen Kühle setzte die Meerulme wieder die Segel. Als Erienne aufwachte, spürte sie bereits die Bewegungen des Schiffs unter sich. In einer eigenartigen, gedämpften Stimmung fuhr das Schiff langsam durch den schmalen Kanal, der sie nach Herendeneth und zu den Besitzern der Stimmen bringen sollte, die sie zu dieser Reise gedrängt hatten.
Sie wusch sich, zog rasch eine hellbraune Hose, ein Wollhemd und ein Lederwams an, das Ren’erei ihr gegeben hatte, und ging an Deck. Einen Moment blieb sie noch in der Tür stehen und betrachtete ihre schlafende Tochter. Lyanna war ein Energiebündel und wachte normalerweise schon in der Morgendämmerung auf, doch im Verlauf der Reise hatte sie immer länger geschlafen, und Erienne hatte inzwischen den Eindruck, dass dieser tiefe Schlaf nicht völlig ihrer eigenen Kontrolle unterlag. Andererseits war sie erfrischt und munter, wenn sie aufwachte, und es war ein Segen, dass sie so gelassen blieb, obwohl sie auf einen Schlag alles verloren hatte, was sie kannte.
Erienne kehrte zur gleichen Stelle auf dem Deck wie am vergangenen Tag zurück. Eine wässrige Sonne schien durch eine dichte Wolkendecke hindurch. Der Wind hatte aufgefrischt, doch die Meerulme zog ruhig und gleichmäßig durch die Inselgruppe.
Den ganzen Tag über schlichen sie vorsichtig zwischen den Inseln dahin. Idyllische Lagunen wechselten mit leblosen Felsklippen, irgendwann sahen sie eine steil ansteigende Vulkaninsel, deren Bergflanken hinter Wolken verborgen
waren. Droben in der Takelage hielt sich die Besatzung wie am Vortag bereit, um die Segel zu reffen oder zu setzen, sobald von unten ein knappes Kommando gegeben wurde. Der Klüver wurde aus dem Wind genommen, sobald die Brise etwas stärker wurde.
Die Gefahren, die unter den Wellen lauerten, konnte man auf diesem letzten, paradiesischen Abschnitt der Reise leicht vergessen. Erienne staunte über die Ausmaße und die Schönheit von Ornouth, konnte jedoch die ganze Zeit über das Gefühl nicht abschütteln, sie sei nicht ganz und gar willkommen. Es mochte ein beschauliches Paradies sein, aber irgendwo, nicht weit entfernt, schien auch etwas Böses zu lauern. Die Meerulme wurde hier nur geduldet, und wenn sie der Umgebung nicht den gehörigen Respekt zollte, dann konnte das tödliche Geräusch von Felsen, die durch Planken brachen, die Quittung sein.
Am Nachmittag, als die Wolken sich verzogen hatten und ein Stück blauer Himmel zum Vorschein kam, schlief der Wind ein, und es wurde warm. Lyanna war spät am Morgen zu Erienne gekommen, und jetzt sprang sie auf, stützte sich an Eriennes Rücken ab und hielt gespannt nach vorn Ausschau.
»Was ist denn, Liebes?«, fragte Erienne. »Wir sind da«, sagte Lyanna. Im Knarren der Spanten und im Rauschen der kleinen Bugwelle konnte man ihre leise Stimme kaum verstehen. Auch Erienne sah jetzt nach vorn. Der Kapitän hatte die Meerulme nach Steuerbord abdrehen lassen. Sie fuhren an einem weiten Sandstrand vorbei, hinter dem Klippen sich hunderte Fuß hoch erhoben und unzähligen heiser schreienden Seevögeln ein
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