Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
aufrecht wie ein Fels im dunklen Meer hielt sie den Kopf. Ihre Hände waren lang und beinahe
spinnenartig, sie trug keinen Schmuck an den leicht zitternden Fingern, die in sorgfältig manikürten kurzen Nägeln ausliefen.
Erienne sah ihr in die Augen und fing das Licht und die Wärme auf, die hinter ihnen lagen. Ephemere lächelte.
»Du denkst sicher, dass ihr keinen Augenblick zu spät gekommen seid«, meinte sie, »und damit liegst du gar nicht einmal so falsch.«
»Ach, Ephy, sei nicht immer so melodramatisch«, schalt Myriell mit heiserer Stimme, nachdem sie einen Zug aus der Pfeife genommen hatte.
»Wirklich?«, zischte Ephemere etwas unwirsch. »Ich zum Beispiel will nicht die Augen vor dem Risiko verschließen, das wir alle eingehen, und vor dem Ende, mit dem wir rechnen müssen, falls wir scheitern.«
»Das Mädchen muss die Wahrheit erfahren. Die ganze Wahrheit«, warf Cleress ein.
»Was genau soll sie erfahren?«, fragte Erienne. Sie schauderte innerlich. Jegliche Wärme war aus Ephemeres Augen verschwunden, nur die Macht war noch da, und ihre Gefährtinnen waren ihre Spiegelbilder.
»Dann erzähle es ihr, Ephy«, sagte Cleress.
»Erienne, wie du sehen kannst, sind wir selbst für Elfen alt, und auch mithilfe der Magie können wir das Unausweichliche nicht ewig aufschieben«, sagte Ephemere.
»Man kann sicherlich sagen, dass keine von uns noch am Leben wäre, wenn wir nicht gezwungen gewesen wären zu warten«, ergänzte Cleress.
Ephemere nickte. »Du wirst Dinge sehen, die dir nicht gefallen werden. Du wirst den Wunsch haben, uns aufzuhalten, wenn du siehst, was wir mit Lyanna tun. Du wirst um ihre Sicherheit fürchten, und du hast jedes Recht dazu, denn sie wird an jedem Tag ihrer Ausbildung in Gefahr
sein. Ich fürchte, das ist eine unerfreuliche Folge des Schadens, den ihre dordovanischen Lehrer angerichtet haben.«
»Ein Schaden?« Erienne blieb der Bissen im Mund stecken, und ihr Herz pochte zum Zerspringen. Ihr wurde fast schwindlig vor Angst.
»Beruhige dich, Erienne, es ist weder körperlich noch geistig ein dauerhafter Schaden. Wir haben die Albträume gedämpft, die sie in deinem Kolleg hatte. Das Problem ist, dass sie eigentlich noch viel zu jung ist, um die Erweckung zu erleben. Und wenn sie unsere Lehren nicht versteht, dann könnte sie verletzt werden«, sagte Aviana.
»Könnte sie … sterben?« Erienne wagte es kaum auszusprechen.
»Das ist der höchste Preis, den zu zahlen jeder Magier fürchten muss, wenn er die Gabe der Magie in sich zu entwickeln beginnt«, sagte Cleress. »Bei Lyanna wären die Konsequenzen, noch bevor es dazu kommt, allerdings erheblich schlimmer.« Sie hob eine Hand, um Eriennes nächste Frage zu unterbinden. »Wir wissen, dass Lyanna bereits das dordovanische Mana aufgenommen hat, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Dies hat in den Mana-Spuren, die wir so lange erforscht haben, auch als Erstes unsere Aufmerksamkeit erregt.
In ihrem Bewusstsein gibt es allerdings einen Konflikt, der durch die dordovanische Ausbildung verursacht wird. Nur ein Teil ihrer Fähigkeiten wurde aktiviert, und jetzt müssen wir auch den Rest erwecken, doch wir fürchten, dass ihr dordovanisch ausgebildeter Anteil Widerstand leisten wird, bis wir ihn so weit geschult haben, dass er sich nicht mehr wehrt. Das ist schon für einen Erwachsenen schwierig zu begreifen, aber für ein so kleines Kind …« Cleress zuckte mit den Achseln.
Erienne legte die Gabel weg und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie suchte nach einem Ausweg. »Könnt ihr nicht warten, bis sie älter ist? Und sie vor Schäden beschützen, bis sie irgendwie bereit ist?«
»Wenn das möglich wäre, dann würden wir es tun. Doch ihre Erweckung wurde bereits in Gang gesetzt. Unnötigerweise.« Myriell sah Erienne scharf an.
»Wie bitte?«
»Was sie dir auch erzählt haben mögen, die dordovanischen Meister haben gehofft, ihre eigene Magie könnte die übrigen Anteile in Lyanna unterdrücken. Deshalb haben diese Narren versucht, ihre eigene Magie in den Vordergrund zu stellen. Zweifellos haben sie dir erzählt, es sei der einzige Weg, um Lyanna zu retten«, sagte Myriell.
»Ja, schon, aber …« In Eriennes Kopf herrschte ein schrecklicher Lärm, als hätte viel zu spät eine Alarmglocke angeschlagen. Sie war drauf und dran, in Panik zu geraten.
»Sie wollten vor allem sich selbst vor ihr retten. Aber sie hatten keine Ahnung, womit sie es eigentlich zu tun hatten, Erienne, und dein Vertrauen in sie
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