Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
hellrotes Kleid mit weißen Rüschen. Das Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, wie sie es am liebsten hatte, und wie immer hielt sie die Puppe in der rechten Hand.
»Wie groß ist das Haus?«, fragte Erienne, als sie hinter Lyanna trat und zu einem Gebäudeflügel blickte, der mehr als hundert Schritt entfernt auf der anderen Seite des Obstgartens lag.
»Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten«, erklärte Ren’erei. »Es wurde schon während der Spaltung gebaut, und seitdem hat der Ausbau nicht aufgehört, obwohl es heute nur noch wenige Bewohner gibt. Es bedeckt gewiss den größten Teil des Hügels. Du solltest es dir aus der Luft anschauen. Wenn du unterhalb der Illusion bleibst, dann kannst du es überblicken. Heute leben hier nur noch vier, aber früher waren es mehr als achtzig.«
»Was ist denn geschehen?« Erienne zog Lyanna vom Fenster weg, und sie gingen weiter an den alten, ausgeblichenen Bildern vorbei, auf denen brennende Städte, große Feste und fliehende Rehe zu sehen waren. Es war eine eigenartige Sammlung.
»Ich glaube, sie haben sich wenig Gedanken über das Fortbestehen ihrer Gruppe gemacht, bis es fast zu spät war. Wie du selbst weißt, ist es nicht gerade leicht, einen guten Schüler zu finden. Ihre Zahl schrumpfte rasch, und der Niedergang wurde noch dadurch beschleunigt, dass viele nicht ihr ganzes Leben hier verbringen wollten. Obwohl der Orden so wichtig war, schwand der Wille, ihn mit aller Kraft zu unterstützen. Aber wer könnte das alles schon wirklich erklären?«
Sie erreichten die Türen, die für sie geöffnet wurden. Dahinter befand sich ein riesiger, rot und weiß dekorierter Ballsaal. Es gab kostbare Lüster und Spiegel, deren Anblick dem Betrachter den Atem raubte, auch wenn die Staubschicht verriet, wie alt dies alles schon war.
»Ich überlasse es ihnen, dir den Rest selbst zu erzählen«, sagte Ren’erei. Sie führte sie durch den Ballsaal zu
einer unauffälligen Tür, klopfte an und öffnete. Dahinter lag ein kleines Esszimmer. Es war mit Eiche vertäfelt und mit Porträts von Elfen geschmückt. In der hinteren Hälfte stand ein langer Tisch, an dem vier ältere Frauen saßen. Sie redeten miteinander, bis Lyanna und Erienne hereinkamen. Die Kleine umklammerte das Bein ihrer Mutter.
»Schon gut, Lyanna, ich bin da, und sie sind Freunde«, flüsterte Erienne. Erst jetzt konnte sie die Majestät der Al-Drechar wirklich aufnehmen.
Erienne zweifelte nicht daran, dass sie sich in der Gegenwart der mächtigsten Magier befand, die sie je gesehen hatte. Ihre Gesichter waren die von Wesen, die unsagbar müde und doch entschlossen waren zu überleben, bis sich die Erfüllung ihres langen Lebens endlich eingestellt hatte. So würde Erienne die Al-Drechar immer in Erinnerung behalten.
Oberflächlich betrachtet waren sie uralte Elfen, freundlich, aber mit dem grimmigen Ausdruck, der durch straff gespannte Haut entsteht. Erienne sah Büschel von weißem Haar, knorrige Finger, lange Hälse und durchdringende Augen. Als dann aber eine von ihnen zu sprechen begann, war die Stimme wie Balsam auf einer offenen Wunde, und alle Furcht war besänftigt.
»Setzt euch, setzt euch. Wir müssen alle erst einmal essen. Du, mein Kind, du bist sicher müde und verängstigt nach dieser langen Reise. Wir wollen dich nicht lange aufhalten. Deine Mutter behalten wir allerdings ein wenig länger hier, wenn du nichts dagegen hast.«
Lyanna rang sich zu einem kleinen Lächeln durch, als Erienne am anderen Ende des Tischs einen Stuhl für sie zurechtrückte und sie aufforderte, sich zu setzen, ehe sie sich neben ihr niederließ. Ren’erei entschied sich für einen neutralen Platz zwischen den beiden Gruppen.
»Ihr werdet meiner Mami aber nichts tun«, sagte Lyanna. Sie starrte wie gebannt das blaue Tischtuch an.
»Aber nein, mein Kind, ganz im Gegenteil«, sagte eine andere Frau. »Wir haben viel zu lange gewartet, um irgendjemandem irgendetwas zu tun.« Sie klatschte in die Hände. »Wir wollen uns gleich vorstellen. Zuerst wollen wir aber etwas essen.«
Durch eine Tür auf der linken Seite kam eine schlanke Frau in mittleren Jahren herein. Sie trug eine dampfende Terrine an geschmückten Holzgriffen. Hinter ihr brachte ein höchstens zwölf Jahre alter Junge ein Tablett mit Schalen und Tellern und geschnittenem Brot. Sie begannen bei Lyanna und teilten rasch die dicke Suppe aus, die herrlich und gesund duftete und Eriennes Magen ein erwartungsvolles Knurren entlockte. Sie konnte
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