Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
versichern, dass es das Allerletzte ist, was sie wollen.« Doch ihr Widerspruch und ihre Heiterkeit brachten Eriennes Blut erst recht zum Kochen.
»Lass mich los, lass mich sofort los.«
»Erst wenn du dich beruhigt hast.«
Jetzt sah sie Ren böse an, die ängstlich zusammenzuckte. »Lass mich los, oder ich lege dich um, wo du stehst. Ich will sofort meine Tochter sehen.«
Ren’erei trat zur Seite, und ohne einen zweiten Blick rannte Erienne los. Sie folgte den Geräuschen, die sie gehört hatte, erreichte die Tür des Unterrichtsraums und riss sie auf.
»Was ist hier los?«, rief sie, doch die letzten Worte blieben ihr beinahe im Hals stecken. Anscheinend bester
Stimmung malte Lyanna etwas mit bunter Kreide auf eine Schiefertafel. Die Al-Drechar hatten sich rings um ihren Schreibtisch versammelt und beobachteten aufmerksam, was sie zeichnete.
Ephemere schaute auf. »Erienne, du scheinst so aufgeregt. Ist etwas passiert?«
Erienne runzelte die Stirn. Das Schluchzen war in ihrem Kopf verstummt, und die Schreie waren nur noch ein fernes Echo.
»Ich habe gehört …«, begann sie und machte einen Schritt. »Lyanna, ist alles in Ordnung?«
»Ja, Mami«, sagte Lyanna nickend, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
Erienne wandte sich wieder an Ephemere, die zusammen mit Aviana durchs kahle, von einem Kaminfeuer erwärmte Zimmer zu ihr kam. Die Flammen tanzten auf den polierten Steinwänden und der Decke.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte sie.
»Nein, ich …« Erienne kniff die Augen zusammen. »Ich habe gehört … da war etwas in meinem Kopf. Lyanna hat geweint und geschrien. Es war schrecklich.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Aviana. »Wahrscheinlich waren es nur Erinnerungen, von denen sie sich im Unterbewusstsein gelöst hat. Es tut mir Leid, dass es bis zu dir durchdringt. Mit so einer Nebenwirkung hatten wir nicht gerechnet. Aber wie du sehen kannst, geht es Lyanna ganz gut.«
Die beiden Al-Drechar kamen weiter auf sie zu und drängten Erienne zur Tür zurück.
»Es war kein Traum«, sagte sie. »Ich habe es mir nicht eingebildet.«
»Das hat auch niemand behauptet«, erwiderte Ephemere. Sie streckte den Arm aus und bugsierte Erienne
weiter zur Tür. »Vielleicht solltest du etwas frische Luft schnappen.«
»Ja, du hast Recht«, sagte Erienne. »Lyanna, brauchst du deine Mami?«
»Nein«, kam ohne Zögern die muntere Antwort.
»Gut.« Sie konnte es nicht begreifen. Sie hatte Schreie gehört, die nach Schmerzen und Furcht klangen. Sie hatte es gefühlt, und sie war zu ihr gerannt, wie sie es schon hundertmal vorher in Dordover getan hatte. Doch Lyanna war, wenigstens äußerlich, völlig ruhig. Erienne begriff es einfach nicht. Das Ablösen von Erinnerungen. Vielleicht. Sie musste nachdenken. »Ich werde jetzt den Rundflug über das Haus machen, wenn ihr nichts dagegen habt«, sagte sie.
Ephemere lächelte. »Aber natürlich nicht. Das ist eine ausgezeichnete Idee. Mach deinen Kopf frei und komm danach wieder hierher. Bis dahin wird sicher auch Lyanna hier fertig sein.«
»Bis nachher dann, Liebes.
»Hmm-hmm.« Lyanna malte weiter.
Ein lautes, trockenes Knacken, das aus einer größeren Entfernung zu kommen schien, versetzte Lord Denebre, der am lodernden Kaminfeuer im Sessel saß, in einen leicht verwirrten Wachzustand. Wie gewöhnlich hatte der alte Lord nach dem Mittagessen im freundlich geschmückten Turmzimmer, das durch ein eigens erweitertes Fenster viel Sonnenlicht bekam, ein Nickerchen gehalten. Er schüttelte den Kopf und fragte sich, ob er das Geräusch nicht vielleicht doch nur geträumt hatte. Nach der Besetzung seiner Stadt durch die Wesmen war er nicht wieder völlig genesen, und die heftigen Bauchschmerzen, die ihn regelmäßig quälten, wurden immer
schlimmer und ausgedehnter, je mehr Jahreszeiten vergingen. Der Besetzung war auch Genere zum Opfer gefallen, mit der er fünfundvierzig Jahre verheiratet gewesen war, und so wurden die Schmerzen in seinem Bauch von denen, die er im Herzen spürte, sogar noch in den Schatten gestellt.
Lord Denebre erhob sich aus seinem Sessel und ging langsam zum Turmfenster, das den Burghof und seine geliebte Stadt überblickte. Alle Narben der Invasion durch die Wesmen waren inzwischen verheilt. Es war ein warmer Nachmittag, obschon hier und dort von Süden her Wolken aufzogen, die nach Regen aussahen.
Als er zur hübschen, am See gelegenen Stadt hinabschaute, erkannte Denebre, dass er das Geräusch keineswegs geträumt
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