Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
kleines Kind war, obwohl das Mana nach der ungeschickten dordovanischen Erweckung mit großer Kraft, aber ungeordnet durch ihren Kopf tobte. Ein kleines Kind lebte in seiner ganz eigenen Welt, es hatte Ansprüche, und man trug Verantwortung. Da Erienne vorübergehend nicht greifbar war, mussten die vier alten Frauen die Rolle der verständnisvollen Großmutter annehmen. Auch Ren’erei war abgereist, und Lyanna wurde mit den anderen Elfen der Gilde nicht recht warm, doch sie vertraute den Al-Drechar, die allerdings schon seit Jahrzehnten keinen Umgang mehr mit Kindern gehabt hatten.
Also machten sie Fehler, und der schlimmste war wohl die Annahme, Lyanna könne sich jederzeit und ohne weiteres mit sich selbst beschäftigen, wenn sie spielen wollte. Sie überwachten zwar ihr Bewusstsein und den Fluss des Mana um sie herum, aber das war, wie Cleress wusste, nicht das, worauf es wirklich ankam. Doch sie mussten ausruhen, und die Versuchung, jede sich bietende Gelegenheit zum Ausspannen zu ergreifen, wann immer sie nicht aktiv lehrten oder Lyanna abschirmten, war unwiderstehlich.
Cleress nahm noch einen langen Zug aus der Pfeife, vergewisserte sich, dass sie gut brannte, und reichte sie an Myriell weiter. Sie musste ihrer Schwester das Mundstück zwischen die Lippen schieben, damit diese überhaupt bemerkte, dass sie an der Reihe war.
»Wie spät ist es?«, murmelte Myriell, bevor sie den Rauch inhalierte.
»Zu früh, um sich ganz und gar dem Lemiir in der Pfeife hinzugeben, Myra. Die Sonne sinkt hinab, aber bis zur Nacht ist noch viel Zeit.«
»Nicht unbedingt für das Kind.«
»Nein«, stimmte Cleress zu.
Myriells knappe Bemerkung erinnerte sie an ihre Sorgen. Sie unterstützten einander und gaben sich gegenseitig Kraft, sie versorgten sich körperlich und geistig, so gut es ging. Doch die große Frage blieb, ob Lyanna wenigstens eine Spur von Selbstbeherrschung lernte, ehe es endgültig zu spät war, das Mädchen zu unterweisen, zu kontrollieren und zu beschützen.
Cleress machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Cleress, im Obstgarten, sofort. Ephys Stimme ertönte in ihrem Kopf und schreckte sie auf. Ihr Herz raste.
»Es gibt Schwierigkeiten, Myra. Bleib hier. Ich rufe dich, wenn wir dich brauchen.«
»Hoffentlich nicht«, murmelte Myriell.
Cleress kam mühsam auf die Füße und humpelte eilig zum Obstgarten. Das Lemiir war nicht stark genug, um die Schmerzen zu lindern, die durch ihr Bein und ihren Rücken schossen, sobald sie das gichtige Knie belastete.
Sie lief durchs Esszimmer und den Ballsaal, die Sorge beschleunigte ihre Schritte, und Ephemeres Angst hallte in ihrem Kopf nach.
Ephy stand am Eingang des Obstgartens und starrte hinaus. Als Cleress zu ihr kam, wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Mitten im Garten saß Lyanna in ihrem blauen Lieblingskleid im Schneidersitz. Sie hatte die Arme ausgestreckt und schaute nach oben, ein verzücktes Lächeln verklärte ihr Gesicht. Rings um sie bewegten sich die Bäume, wie sie es wollte. Ganze Äste bogen sich zu ihr, die Blätter rauschten, Blüten öffneten sich, winzige Früchte wechselten die Farben.
Wie in einem Tanz, zu dem Lyanna die Choreografie schrieb, bewegten sich acht oder neun Bäume, wackelten mit den Ästen, nickten mit den Kronen und drehten sich. Doch Cleress beobachtete wie gebannt vor allem die Blätter. Als wehe ein böiger Wind über ein Kornfeld, neigten sie sich hierhin und dorthin, wie es unter natürlichen Bedingungen nie möglich gewesen wäre. Die Gleichförmigkeit ihrer Bewegungen war hinreißend, die dunkelgrünen Oberflächen und die silbernen Unterseiten blinzelten wie zehntausend Augen, als sie sich anmutig auf ihren schlanken Stängeln bogen. Dabei machten sie Geräusche wie mit kleinen Stimmchen, sie flüsterten und lachten fröhlich.
Zwischen alledem saß Lyanna, und nur ihre Lippen bewegten sich lautlos, als ob …
»Sie redet mit ihnen«, keuchte Cleress.
»Ja«, stimmte Ephemere zu. »Oder sie versucht es. Die Fantasie eines Kindes kennt keine Grenzen, und Lyanna hat die Macht, in die Wirklichkeit umzusetzen, was sie sich erträumt. Das Problem ist nur, dass sie flackert. Sie wird Kopfschmerzen haben, wenn sie fertig ist.«
»Und in Balaia gibt es einen weiteren Sturm«, meinte Cleress. Sie stellte ihre Augen aufs Mana-Spektrum ein und erkannte, was Ephemere meinte. Die Mana-Gestalt, die Lyanna unbewusst benutzte, um die Bäume zu beeinflussen, war ein erstaunliches Spinnennetz, aber
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