Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
Abschnitt der Reise war langsam und weitgehend schweigend verlaufen. Jeder grübelte über das, was sie unterwegs gesehen und gehört hatten. Greythorne bot bei weitem den schlimmsten Anblick.
Als der Rabe sich näherte, hatten verschiedene Lichter die Hoffnung geweckt, der ruhige Marktflecken habe den Sturm unbeschadet überstanden. Doch aus der Nähe sahen sie die schrecklichen Verwüstungen.
Was Hirad anfangs noch für Spitzdächer gehalten hatte, waren in Wirklichkeit halb eingestürzte Mauern, deren Überreste wie Speere in den Himmel ragten. Die Pflasterstraßen, die zum Markt führten, waren voller Schutt und Trümmer. Staubfahnen wehten durch die Stadt, und die einzigen Dächer, die noch intakt waren, gehörten zu den Zelten, die als Notunterkünfte aufgestellt worden waren.
Der Rabe hatte bereits ähnliche Verwüstungen gesehen, wenngleich nicht in diesem Ausmaß, doch es waren vor allem die Menschen, die ihnen vor Augen führten, welcher Schrecken Greythorne heimgesucht hatte.
Der Sturm hatte vor zwei oder drei Tagen gewütet, doch erst jetzt stellte sich das Entsetzen über die Ereignisse wirklich ein. Hirad konnte sich lebhaft ausmalen, was unmittelbar nach dem Sturm passiert war. Adrenalin und Panik hatten die Müdigkeit vertrieben, während die Überlebenden in Gruppen nach ihren Angehörigen suchten, Verschüttete befreiten und alles retteten, was noch brauchbar schien. Die Kisten, die unter Häuten und Leinwand gestapelt waren, verrieten, wie gründlich sie vorgegangen waren.
Doch die erste Nacht ohne Dach über dem Kopf, das Nachtlager in den Ruinen der einstmals stolzen Häuser, die erste Morgendämmerung danach – das hatte
ihnen die Willenskraft genommen und ihre Moral untergraben. Wer am vergangenen Abend noch voller Energie gewesen war, erwachte erschöpft und mit dunklen Ringen unter den Augen und sah sich traurig in seiner Stadt um. Alles, was man jetzt noch bergen konnte, waren Leichen.
Die Gesichter waren mit Schmutz verschmiert, Männer und Frauen legten sich ins Zeug, so gut es ging, doch der Kampfgeist war dahin. Groß und fassungslos und ungläubig waren die Augen.
Die Rabenkrieger liefen an einem Kind vorbei, das in eine Decke gehüllt war. Der kleine Junge saß unter einem kleinen, mit Leder und Stangen gebauten Dach. Er war höchstens fünf und so verstört, dass er nicht einmal weinen konnte. Er saß nur da, starrte ins Leere und schauderte. Die Götter mochten wissen, was er gesehen hatte und was aus seinen Eltern geworden war.
Als die Rabenkrieger, die bisher weitgehend ignoriert worden waren, den Hauptplatz betraten, sahen sie Spuren einer Organisation hinter den quälend langsamen, aber entschlossenen Bemühungen. Rathaus und Kornspeicher waren bis auf eine Mauerecke, in der sogar noch die Fenster erhalten waren, verschwunden. Im Glas spiegelte sich das Licht der Laternen, als blickten boshafte Facettenaugen auf die Zerstörung herab. Vor der Mauer war ein vorne offenes Zelt aufgebaut worden, in dem es taghell war. Drinnen drängten sich Männer und Frauen um Tische und sichteten Karten und Pergamente oder bereiteten heiße und kalte Speisen und Getränke zu.
Mitten darin saß ein Mann, der am rechten Auge und am rechten Bein Verbände trug. Selbst aus einer Entfernung von zwanzig Schritt konnte man sehen, dass er bleich und hager war. Er hatte tiefe Falten im Gesicht
und graue Haare und kämpfte gegen eine unendliche Erschöpfung an.
»Mit dem müssen wir reden«, sagte der Unbekannte.
»Geht nur. Ich suche einen Platz für die Pferde«, erklärte Ilkar.
Der Unbekannte nickte und wollte mit Hirad zum warmen Zelt gehen. Ein verängstigter und müder junger Mann hielt sie auf.
»Ihr seid nicht von hier? Kommt Ihr, um zu helfen?« Das lange blonde Haar hing ihm in Strähnen im bleichen, schmalen Gesicht.
»Wir sind der Rabe«, sagte der Unbekannte nur. »Wir suchen Denser.«
Der junge Mann holte tief Luft.
»Er sagte schon, dass Ihr kommt.« Er nickte zum sitzenden verbundenen Mann hin. Hirad legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ja, wenn wir etwas tun können, dann werden wir helfen.«
Sein Lächeln weckte in den blutunterlaufenen Augen ein Lebensfünkchen.
»Danke«, sagte er. »Vielen Dank.«
Der Unbekannte ging zu dem Mann, der die Kette des Bürgermeisters und die grüne Amtsrobe trug. Der Mann streckte eine Hand aus, die der Unbekannte freundlich schüttelte.
»Gannan. Wenigstens lebt Ihr noch.«
»So gerade eben, Unbekannter, so gerade eben. Ich
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