Der Canyon
Haar ins Gesicht fiel. Sie betupfte seine Stirn mit einem Fetzen Stoff.
»Sally? Geht es dir gut?«
»Mir fehlt nichts. Du hingegen hast einen Streifschuss abbekommen.« Sie versuchte zu lächeln, doch ihre Stimme zitterte. »Hat dich vorübergehend außer Gefecht gesetzt.«
»Was ist mit ihm?«
»Tot – glaube ich.«
Tom entspannte sich. »Wie lange war ich …?«
»Nur ein paar Sekunden. Gott, Tom, ich dachte …« Sie verstummte. »Einen halben Zentimeter weiter rechts, und … ach, nicht so wichtig. Du hast verdammt viel Glück gehabt.«
Tom versuchte sich aufzurichten und verzog das Gesicht; sein Kopf dröhnte.
Sally drückte ihn sacht zu Boden. »Ich bin noch nicht fertig. Du hast einen Streifschuss, vielleicht eine Gehirnerschütterung, aber der Knochen ist heil geblieben. Du bist eine verdammt harte Nuss.« Sie wickelte ihm einen Streifen blauer Seide um den Kopf. »Ich finde, Valentino sollte unbedingt Designer-Verbände entwerfen. Du siehst hinreißend aus.«
Tom versuchte zu lächeln und zuckte zusammen.
»Zu fest?«
»Nein, nein.«
»Übrigens schulde ich dir meinen Dank. Du hast diesen nicht geladenen Revolver verdammt gut genutzt.«
Er streckte den Arm aus und nahm ihre Hand. »Hilf mir hoch. Mein Kopf fühlt sich schon etwas besser an.«
Sie half ihm, sich aufzusetzen und dann langsam aufzustehen. Er schwankte, doch die Schwindelgefühle ließen rasch nach. »Fehlt dir auch wirklich nichts?«, fragte sie.
»Ich mache mir viel mehr Sorgen um dich als um mich.«
»Ich habe eine Idee: Mach du dir meine Sorgen, und ich mach mir deine.«
Tom richtete sich ganz auf und versuchte, seinen Durst zu ignorieren. Sein Blick fiel auf den Mann, der im Sand lag – der Dreckskerl, der seine Frau entführt und dann versucht hatte, sie zu vergewaltigen und zu ermorden. Er lag mit nacktem Oberkörper auf dem Rücken, die Arme an den Seiten, beinahe so, als wäre er eingeschlafen. Beide Beine lagen gerade auf dem Boden, doch im rechten Hosenbein der Jeans prangte ein großes Loch, und es war schwarz vor Blut. Darunter versickerte gerade eine große Blutlache im Sand.
Tom kniete sich hin. Der Mann hatte ein hageres, schmales Gesicht, war unrasiert, das schwarze Haar staubig. Sein Mund war entspannt, er lächelte beinahe, und der leicht zurückgebogene Kopf enthüllte einen hässlichen, mit Stoppeln übersäten Adamsapfel. Ein dünner Spuckefaden lief ihm aus dem Mundwinkel. Die Augen waren Schlitze – beinahe geschlossen, aber nicht ganz. Sein Oberkörper war aufgebläht wie der eines Bodybuilders – er sah aus wie ein typischer Häftling.
Tom tastete am Hals nach dem Puls und war geschockt, als er tatsächlich einen spürte.
»Ist er tot?«, fragte Sally.
»Nein.«
»Was machen wir jetzt?«
Tom versuchte, das durchweichte Hosenbein aufzureißen, aber der Jeansstoff war zu fest. Er zog ein Messer aus dem Gürtel des Mannes, schlitzte das Hosenbein auf und zog den Stoff auseinander. Das Bein und die Leistengegend darüber waren ein einzige Sauerei, und er hatte nichts, womit er das viele Blut abwischen könnte, um die Wunden besser zu erkennen. Die Kugel war hinter dem Knie wieder aus dem Körper gedrungen und hatte die gesamte Kniekehle aufgerissen. Noch immer sickerte Blut daraus hervor.
»Sieht so aus, als hätte die Kugel die Oberschenkelschlagader getroffen.«
Sally wandte den Blick ab.
»Hilf mir, ihn hier an den Felsen in den Schatten zu ziehen.«
Sie lehnten den Mann an den Felsen. Tom schnitt ein Stück von seinem Hemd ab und machte daraus einen Druckverband, den er gerade so fest anzog, dass der Mann kein weiteres Blut mehr verlor. Er durchsuchte die Taschen, holte die Brieftasche des Mannes heraus. Er öffnete sie und fand darin einen Führerschein aus Ohio mit einem Foto des Mannes, einen frechen Ausdruck in den Augen, ein arrogantes, schiefes Lächeln im Gesicht – ein echter Psychopath.
»Jimson A. Maddox«, las er laut. Er durchsuchte die Brieftasche und zog ein dickes Bündel Geldscheine, Kreditkarten und Quittungen heraus. Eine fleckige Visitenkarte ließ ihn innehalten:
Iain Corvus, Dr. phil., F.R.P.S.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Wirbeltierpaläontologische Abteilung
American Museum of Natural History
Central Park West/Neunundsiebzigste Straße
New York, NY 10024
Er drehte die Karte um. Auf der Rückseite waren in energischer Handschrift die Adresse eines Clubs, Handynummern und E-Mail-Adressen notiert. Er reichte sie Sally.
»Das ist der Kerl, für den er
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