Der Canyon
halben Kilometer traf Ford auf eine große Sandsteinplatte, die sich über die gesamte Breite des Canyons erstreckte und zu nasseren Zeiten einen Wasserfall gebildet haben musste. Ein aufgesprungenes Bassin aus vertrocknetem Schlamm darunter wies auf einen früheren Teich hin. Er kletterte auf das Sandstein-Plateau hinauf, wobei er die hervorstehenden Gesteinsschichten wie eine Leiter benutzte, und wanderte weiter.
Der Canyon beschrieb eine scharfe Biegung und öffnete sich dann plötzlich zu einem gewaltigen Tal, in dem drei Canyons aufeinanderstießen wie bei einem versteinerten Zugunglück und ein wahres Spektakel ungezügelter Erosion lieferten. Ford blieb stehen, beim Anblick dieser in Stein erstarrten Naturgewalten von Ehrfurcht ergriffen. Mit einem Lächeln beschloss er, dieses Tal »Devil's Graveyard« zu nennen – den Friedhof des Teufels. Während er dastand, erloschen die letzten Sonnenstrahlen am Rand der Felswand, die Nacht senkte sich über das seltsame Tal und hüllte alles in violette Schatten. Dieses Land war wahrhaftig eine verlorene Welt.
Ford kehrte um. Es war zu spät, um das Tal zu erkunden; er musste vor dem Dunkelwerden sein Lager erreichen. Die Steine hatten Millionen von Jahren hier gewartet, dachte der Mönch. Da machte ein weiterer Tag keinen Unterschied mehr.
2
Tom fuhr in nördlicher Richtung auf dem Highway 84 und konnte sich nur mit Mühe konzentrieren. Das Flugzeug hatte Verspätung gehabt, es war schon halb neun, und er war noch eine ganze Fahrstunde von dem Abschnitt des Highways entfernt, zu dem der Entführer ihn beordert hatte. Auf dem Beifahrersitz lag ein verschließbarer Gefrierbeutel voll gelbem, zerknülltem Papier, das Notizbuch darin verborgen. Sein Handy lag ebenfalls auf dem Sitz, voll geladen, und erwartete den Anruf.
Er fühlte sich schrecklich hilflos und den Ereignissen ausgeliefert – ein unerträgliches Gefühl. Er musste eine Möglichkeit finden, die Oberhand zu gewinnen, zu agieren, statt nur zu reagieren. Aber er konnte nicht einfach irgendetwas tun: Er musste einen Plan ausarbeiten, und dazu war es nötig, seine kochenden Gefühle beiseitezuschieben und so kühl und klar wie möglich zu denken.
Die weite, dunkle Wüste flog zu beiden Seiten der Straße an ihm vorbei, die Sterne hingen funkelnd am Nachthimmel über ihm. Der Flug von Tucson nach Santa Fé war die schwerste Stunde gewesen, die Tom je hatte durchstehen müssen. Es hatte ihn übermenschliche Anstrengung gekostet, seine wüsten Spekulationen abzustellen und sich auf das eigentliche Problem zu konzentrieren. Das Problem war ganz einfach: Er musste Sally zurückholen. Alles andere war gleichgültig. Wenn Sally erst in Sicherheit war, würde er sich um den Entführer kümmern.
Wieder einmal fragte er sich, ob er nicht doch die Polizei hätte einschalten müssen, oder ob er Willer gleich links liegen lassen und sich ans FBI wenden sollte. Doch tief im Herzen wusste er, dass der Entführer Recht hatte: Wenn er das tat, würde er die Kontrolle über die Situation verlieren. Die staatlichen Stellen würden alles übernehmen. Egal, was Tom machte, Willer würde daran beteiligt sein. Er glaubte dem Entführer, dass er Sally umbringen würde, falls sich die Polizei einmischte. Dieses Risiko war zu groß; Tom musste das allein machen.
Er kannte den Abschnitt des Highway 84, den er auf und ab fahren sollte. Es war eine der einsamsten zweispurigen Strecken im ganzen Staat, es gab dort nur eine Tankstelle mit einem kleinen Laden.
Tom überlegte, wie er die Sache aufgezogen hätte, wenn er der Entführer wäre; was hätte er geplant, wie würde er sich das Notizbuch holen und verhindern, dass man ihm folgte? Genau das war es – er musste hinter den Plan seines Gegners kommen.
3
Willer schaute von einem Stapel Papierkram hoch und sah auf die Uhr. Viertel nach neun. Er warf Hernandez einen Blick zu, der im kränklichen Neonlicht des Büros beinahe grün wirkte.
»Er hat uns versetzt«, sagte Hernandez. »Einfach so.«
»Einfach so …« Willer tippte mit dem Stift auf den Papierstapel vor sich. Das ergab keinen Sinn – ein Kerl, der so viel zu verlieren hatte. Für diese Sorte Leute gab es eine Million ganz legaler Möglichkeiten, einer Vernehmung bei der Polizei aus dem Weg zu gehen.
»Glauben Sie, er hat den Flieger sausen lassen?«
»Sein Fahrzeug – dieser Chevy-Oldtimer, den er fährt – stand draußen am Flughafen. Sein Flug ist um acht gelandet, und jetzt ist der Wagen weg.«
Hernandez
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