Der Cellist von Sarajevo
Andere verweilen kurz am Straßenrand und rennen dann, so schnell sie können, als würden sie gejagt, bis sie auf der anderen Seite sind. Ein gehetzter Spurt, dann gehen sie weiter, als wäre nichts gewesen.
Dragan begibt sich zu denen, die im Schutz einer Betonmauer auf ein Zeichen warten, darauf, dass sie das Gefühl bekommen, jetzt könnten sie es wagen. Er ist sich nie ganz sicher, worauf er wartet, was den Ausschlag dazu geben könnte, aber früher oder später hat er immer das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Bislang ist er am Leben geblieben, folglich muss er irgendetwas richtig machen, was immer das auch sein mag.
Seit Ausbruch des Krieges hat Dragan dreimal mit angesehen, wie Menschen von Heckenschützen getötet wurden. Am meisten überraschte ihn dabei, wie schnell das Ganze vor sich ging. Eben noch ist jemand über die Straße gelaufen oder gerannt, dann fällt er unvermittelt in sich zusammen, als wäre er eine Marionette, deren Puppenspieler ohnmächtig geworden ist. Ein trockener Knall ertönt, wenn sie stürzen, und jedermann in der näheren Umgebung geht in Deckung. Nach ein paar Minuten allerdings scheint wieder das einzukehren, was man inzwischen als Normalität bezeichnet. Die Leiche wird geborgen, wenn möglich, und die Verwundeten werden weggebracht. Keiner weiß, ob der Heckenschütze noch da ist oder ob er die Stellung gewechselt hat, aber sie benehmen sich so, als hätte er es getan, bis er das nächste Mal schießt, dann wiederholt sich das Ganze. Es scheint keine große Rolle zu spielen, ob er trifft oder vorbeischießt. Anfangs vielleicht, vor vielen Monaten, aber jetzt nicht mehr. Jetzt sind die Menschen daran gewöhnt, dass andere Menschen auf der Straße erschossen werden.
Zwei der drei Menschen, deren Tod Dragan mit ansehen musste, wurden am Kopf getroffen und starben auf der Stelle. Einer wurde in die Brust getroffen und dann, etwa eine Minute später, am Hals. Er starb eines viel schlimmeren Todes. Dragan hat Angst vor dem Sterben, aber noch mehr Angst hat er vor der Zeitspanne, die zwischen Treffer und Tod liegen könnte. Er weiß nicht genau, wie lange es dauert, bis man nach einem Kopfschuss stirbt, ob der Tod sofort eintritt oder ob man noch ein paar Sekunden lang bei Bewusstsein bleibt, und er glaubt keinem, der behauptet, er wüsste es ganz genau. Jedenfalls wäre diese Art zu sterben weitaus besser, als nach Luft zu schnappen wie ein Fisch auf dem Trockenen, zuzusehen, wie das eigene Blut auf die Erde sprudelt, und jenen Gedanken ausgeliefert zu sein, die Menschen umtreiben, wenn sie erkennen, dass es mit ihnen zu Ende geht.
Er ist bei der Kreuzung angelangt und kann nicht weitergehen, ohne sich in Schusslinie der Berge zu begeben. Eine kleine Menschengruppe steht am Straßenrand herum, keiner läuft los, keiner macht kehrt. Alle schauen zur anderen Straßenseite, als dort ein Mann losrennt. Er duckt sich ein bisschen, hat eine Zigarette in den Mund geklemmt. Dragan stellt fest, dass er den Mann kennt. Amil heißt er, und er arbeitet beziehungsweise hat in dem Zeitungskiosk vor Dragans altem Wohnhaus gearbeitet. Dragan hat ihn seit Kriegsausbruch nicht mehr gesehen, hat nicht einmal an ihn gedacht.
Als Amil die andere Seite erreicht, bleibt er stehen und schiebt die Hände in die Taschen seiner Jeans. Der Kragen seiner Lederjacke ist auf der einen Seite hochgeschlagen, und seine Haare sind kürzer, als Dragan sie in Erinnerung hat. Amil ist nur ein paar Schritte von ihm entfernt, und wenn er aufblickt, sieht er ihn. Dragan dreht sich zu der Mauer hinter ihm um, als mustere er sie, und wartet, bis Amil vorbeigegangen ist. Anscheinend hat er ihn nicht bemerkt.
Als er weg ist, denkt Dragan über sein Verhalten nach und hat einen Moment lang ein schlechtes Gewissen. Er hat Amil immer gemocht und früher oft mit ihm geredet. Aber das war vor dem Krieg. Wenn sie jetzt miteinander sprächen, würden sie beide lediglich daran erinnert werden, wie viel verlorengegangen ist, dass nichts mehr so ist wie einst. Und obwohl es keinen Ort in der Stadt gibt, der ihm nicht dasselbe sagen würde, ist es irgendwie schmerzlicher, wenn man es bei einem anderen Menschen sieht, jemandem, den man einst kannte.
Er redet nicht mehr mit Freunden, besucht niemanden, geht denen aus dem Weg, die ihn besuchen wollen. In der Arbeit spricht er so wenig wie möglich. Die Zerstörung der Häuser kann er vielleicht irgendwann ertragen, aber die Zerstörung der Lebensart ist zu viel für
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