Der Cellist von Sarajevo
ihn. Wenn ihm Menschen genommen werden, sei es durch den Tod oder durch eine Veränderung des Charakters, die sie zu Fremden werden lässt, dann ist er ohne sie besser dran.
Ein Pärchen vor ihm hat sich entschieden loszulaufen. Ein Mann und eine Frau, Anfang dreißig, schätzt er. Die Frau trägt ein Kleid aus einem mit Blumen bedruckten Stoff, das ihn an die Vorhänge in dem Haus erinnert, in dem er aufgewachsen ist. Sie haben Händchen gehalten, aber als sie auf die Straße treten, lassen sie einander los und gehen schneller, rennen zwar nicht, aber legen einen flotten Trab hin. Als sie ein Drittel des Wegs hinter sich haben, hört Dragan den trockenen Knall eines Gewehrs, und eine Kugel prallt vor dem Mann vom Asphalt ab. Das Pärchen zögert, weiß nicht recht, ob es umkehren oder weiterlaufen soll. Dann trifft der Mann eine Entscheidung, streckt den Arm aus, ergreift die Hand der Frau und zieht sie zu sich. Sie rennen jetzt auf die andere Straßenseite zu. Sie sind fast dort, als der Heckenschütze erneut feuert, aber entweder haben sie Glück, oder er schießt vorbei, denn ihr Puppenspieler bleibt stehen, und sie erreichen die andere Seite.
Die Menschen rundum atmen erleichtert auf, teils weil es das Pärchen geschafft hat, teils weil sie sich nicht mehr fragen müssen, ob die Kreuzung heute unter Beschuss liegt. Man ist auf seltsame Art erleichtert, wenn man weiß, wo die Gefahr ist. Damit kommt man viel leichter zurecht als mit dem vagen Gefühl drohenden Unheils, wenn man nicht weiß, worauf die Männer auf den Bergen schießen. Jetzt wissen sie es wenigstens. Ein paar Minuten lang wagt sich niemand auf die Straße, aber Dragan weiß, dass es irgendwann jemand riskieren wird und danach jemand anders, bis alle, die hier waren, als der Heckenschütze gefeuert hat, weg sind und diejenigen, die hinzustoßen, nicht einmal wissen werden, wie knapp das Pärchen davongekommen ist. Der Heckenschütze aber wird wieder schießen, wenn nicht hier, dann irgendwo anders, und wenn nicht er, dann ein anderer, und alles wird wieder von vorn beginnen, wie bei einer Herde Gazellen, die zum Wasserloch zurückkehrt, nachdem eine von ihnen dort gefressen wurde.
Zwei
Kenan
Mit dem Fußweg bergab zur Altstadt hätte Kenans Tag begonnen, ob Krieg herrschte oder nicht. Bis vor kurzem hat er als Bürogehilfe bei einer Buchführungsfirma gearbeitet, aber das Gebäude ist jetzt zerstört, was keine Rolle spielt, da es auch keine Arbeit mehr gibt. Wenn er sich allerdings bemüht, wenn er das, was er sieht und denkt, in den Griff bekommt, wenn er die Wasserflaschen vergisst, kann er sich ein paar Straßenzeilen lang vormachen, er wäre auf dem Weg zur Arbeit. Vielleicht wird er mit einem Kollegen zu Mittag essen. Vielleicht setzen sie sich mit einem Kaffee in den Veliki-Park. Er könnte seinen Freund Goran, der unerklärlicherweise ein Fan des FC Chelsea ist, wegen der letzten Niederlage aufziehen.
Bald wird er zu einer Serpentinenstraße kommen, an der die Mülltonnen der Wohngegend stehen. Sie sind unter einem immer höher werdenden Abfallhaufen verschwunden, aus dem tagtäglich alles ausgelesen wird, was auch nur halbwegs wertvoll ist. Sobald er das sieht, kann er die umgekippten Autos oder die Häuser, deren Inneres bloßliegt, nicht mehr ignorieren. Er kann die Schüsse in der Ferne nicht mehr überhören, und ihm fällt ein, dass der Veliki-Park einer der gefährlichsten Orte der Stadt ist, dass er Goran seit Monaten nicht mehr gesehen hat und vermutet, dass er tot ist.
Er läuft weiter bergab. Wenn er aufblickt, kann er die Berge im Süden sehen. Er fragt sich, ob ihn die Männer auf den Bergen sehen können. Er hält es für möglich. Mit einem anständigen Feldstecher könnte man ihn ausfindig machen, einen dünnen, ergrauenden Mann in einem schäbigen braunen Mantel, der zwei Bündel Plastikflaschen trägt. Sie könnten ihn jetzt töten, vermutet er. Aber andererseits hätten sie ihn schon etliche Male töten können, und wenn sie ihn jetzt nicht töten, werden sie künftig noch öfter Gelegenheit dazu haben. Er weiß nicht, warum manche Menschen sterben und andere nicht. Er hat keine Ahnung, wie die Männer auf den Bergen ihre Wahl treffen, und er meint es auch nicht wissen zu wollen. Was würde er davon halten? Wäre er geschmeichelt, weil sie ihn nicht ausgewählt haben, oder beleidigt, weil er in ihren Augen kein wertvolles Ziel war?
Links und rechts von Kenan ragen vier- und fünfstöckige Wohnhäuser auf. Keines
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