Der Cellist von Sarajevo
fürchtet, davor hat er noch mehr Angst. Er glaubt nicht, dass er das könnte. Er weiß, dass er es manchmal möchte, und auf der anderen Seite gibt es genügend Männer, die den Tod verdienen, aber er ist nicht davon überzeugt, dass er es rein technisch fertigbrächte. Einen Menschen zu töten erfordert Mut, und diesen Mut besitzt er nicht. Jemand, der sich kaum von seiner Familie losreißen kann, um Wasser zu holen, ohne draußen vor der Tür zu Boden zu sinken, kann unmöglich das tun, was Ismet tut.
Kenan ist sich nicht sicher, ob Ismet seine innere Anspannung spürt. Er hat das Thema nie zur Sprache gebracht, wusste nie recht, wie er es anstellen sollte, und im Lauf der Zeit ist die Tatsache, dass Ismet kämpft, um sie alle zu retten, und Kenan nicht, immer gewichtiger geworden.
Heute wirkt Ismet besonders müde. Seine grüne Jacke mit den von seiner Frau aufgenähten Abzeichen ist schmutzverkrustet, und er hat sich eine ganze Weile nicht mehr rasiert. Er humpelt leicht, was wegen seiner Größe noch mehr auffällt. Seine Haare sind länger als gewöhnlich, aber immer noch kohlschwarz. Die Tränensäcke unter seinen Augen erinnern Kenan an einen Hund, die Rasse, mit der im Kino entsprungene Sträflinge gehetzt werden.
Die beiden Männer umarmen sich, und Kenan freut sich, seinen Freund zu sehen. Er möchte es nicht zugeben, aber hat es irgendwie erwartet und befürchtet ständig, dass Ismet eines Tages nicht zurückkommt. »Wie läuft es?«
Ismet grinst. »So, wie andere es wollen.« Er deutet auf die Versorgungsstation. »Irgendwelche Neuigkeiten?«
Kenan schüttelt den Kopf. »Ich hatte gehofft, dass es diesmal ein bisschen Fleisch gibt. Ein schönes Steak vielleicht oder ein Lamm.« Den Witz erzählen sie sich immer wieder.
»Pah. Das brauchst du doch nicht. Willst du Braten, dann iss Maden. Mehr verträgst du eh nicht.« Er holt eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche, bietet ihm eine an.
Kenan lehnt ab. Er möchte zwar eine, weiß aber, dass Ismet wahrscheinlich nur noch diese eine Schachtel hat, vielleicht zwei, die er beim Militär anstelle des Solds bekommt, und wenn sie alle sind, wird ihm das mehr zu schaffen machen. Kenan hat aufgehört zu rauchen, betrachtet es als Luxus, den er sich nicht leisten kann, und er glaubt, dass er es auch durchhalten kann.
»Komm schon, nimm sie, spiel nicht den Märtyrer. Es ist nicht die Letzte.« Ismet zieht eine Zigarette aus der Schachtel und drückt sie Kenan in die Hand. »Tu mir den Gefallen.«
Von dem Nikotin wird ihm leicht schwindlig, aber es tut gut. Das hat ihm gefehlt. »Danke.«
Die beiden Männer stehen auf der Straße, ohne etwas zu sagen, und genießen die kurze Stille. Es gibt so viel zu bereden, aber nichts davon kann ausgesprochen werden, nichts ist der Rede wert. Nach einer Weile legt Ismet die Hand auf Kenans Schulter. »Viel Glück beim Wasserholen. Ich melde mich heute Abend bei dir, vielleicht auch morgen.« Er steckt die Hände in die Hosentaschen und geht weiter.
Kenan schaut ihm hinterher, als er um die Ecke verschwindet, dann hebt er seine Wasserflaschen auf und setzt seinen Weg fort. Seine Straße mündet in eine andere, und dort hängt ein Spiegel, damit man sehen kann, ob auf der anderen Straße jemand kommt. Ansonsten ist weit und breit fast alles Glas zersprungen, und jedes Mal, wenn Kenan vorbeikommt, wundert er sich, dass der Spiegel noch immer nicht kaputt ist. Er findet es beinahe komisch. Es gibt kaum noch Autos auf den Straßen, weil sie entweder zu schwer beschädigt sind oder wegen der Treibstoffknappheit und der hohen Benzinpreise nicht fahren können. Und die wenigen Autos, die noch unterwegs sind, wurden zu bevorzugten Zielen der Männer auf den Bergen und fahren so rücksichtslos, dass sie beinahe ebenso gefährlich sind wie die Belagerer der Stadt. Die Ampeln funktionieren nicht, die Straßen sind voller Löcher und Trümmer, aber hier ist dieser Spiegel, ohne einen Kratzer, und erfüllt wie eh und je seinen Zweck.
Er biegt um die Ecke, geht nach Osten, bevor er sich wieder gen Süden wendet. Er kommt an einem Haus vorbei, in dessen Keller eine Suppenküche ist, und nimmt sich vor, auf dem Rückweg vorbeizuschauen und sich eine warme Mahlzeit zu besorgen, wenn sie noch geöffnet ist. Die Lebensmittel in seiner Speisekammer gehen allmählich zur Neige, und wenn er heute ohne Abendessen auskommt, bleibt mehr für seine Familie übrig.
Ein Stück weiter südlich kommt er an der Musikakademie vorbei. Der Bau
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