Der Cellist von Sarajevo
später um etwas bitten wird, das sie nicht machen will.
»Ich möchte Sie an unser erstes Gespräch erinnern«, sagt sie und schaut ihm in die Augen, was sie selten tut.
Als Nermin einen Mann schickte und sie zu sich bat, herrschte bereits seit vier Monaten Krieg. Irgendwie war Strijela überrascht, dass es so lange gedauert hatte, bis man sich an sie wandte. Die meisten anderen Mitglieder der Universitäts-Schützenmannschaft hatte man bereits angesprochen. Später erfuhr sie, dass ihr Vater, der Polizist war, Nermin gebeten hatte, sie in Frieden zu lassen. Er wurde bei einem der ersten Gefechte des Krieges getötet, vor dem Kantonsverwaltungsgebäude, und Strijela hat Nermin nie gefragt, ob er der Ansicht sei, ihr Vater hätte seine Meinung geändert, was ihren Beitrag zur Verteidigung der Stadt anging, oder ob er einfach beschlossen habe, sich nicht mehr um die Bitte eines Toten zu scheren. Sie möchte es gar nicht wissen.
»Wir brauchen Leute, die so gut schießen können wie Sie«, sagte er nur.
»Ich habe noch nie auf einen Menschen geschossen«, entgegnete sie, wohl wissend, dass das bis vor kurzem für einen Großteil der Verteidiger der Stadt galt und möglichweise auch für die Angreifer. »Nur auf Zielscheiben.«
»Das ist reine Ansichtssache«, sagte er.
»Ich möchte keine Menschen töten.«
»Sie retten Menschenleben. Jeder der Männer auf den Bergen wird ein paar von uns töten. Wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, bringen sie uns alle um.«
Strijela dachte darüber nach. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, den Abzug durchzudrücken und mit ihrer Kugel ein Lebewesen zu treffen statt einer Kartonscheibe. Sie war ein bisschen überrascht, dass die Vorstellung sie nicht erschreckte, dass sie es wahrscheinlich fertigbrächte und damit leben könnte.
»Ich glaube, das hier geht vorüber«, sagte sie. Sie drehte ihre Kaffeetasse im Uhrzeigersinn herum. Sie hatte noch keinen Schluck getrunken, und bald würde der Kaffee kalt sein.
Er lehnte sich zurück und schaute auf die Wand, als wäre dort ein Fenster, als böte sich ihm ein Ausblick, der ihn ihre Feststellung unter einem neuen Gesichtspunkt betrachten ließe. »Ein guter Standpunkt. Hoffentlich haben Sie recht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ewig so weitergeht.«
Er wandte den Blick von der Wand ab, schien zu spüren, dass sie zu einer Absichtserklärung ansetzte.
Strijela nickte. »Ich glaube, es wird vorübergehen, und wenn es so weit ist, möchte ich wieder so leben wie zuvor. Ich möchte, dass meine Hände sauber bleiben.«
Nermin warf einen kurzen Blick auf seine Hände, die er auf dem Schreibtisch gefaltet hatte, dann schaute er wieder auf. Sie war sich nicht sicher, ob er es bewusst getan hatte. Es wirkte unabsichtlich, aber nervös machte es sie trotzdem. Er legte die Hände in den Schoß. »Ich glaube, keiner von uns wird wieder so leben können wie vorher, egal, wie es ausgeht. Auch die nicht, die sich die Hände nicht schmutzig machen.«
»Wenn ich mich darauf einlasse, will ich es auf eine bestimmte Art und Weise machen. Ich will nicht blindlings töten, nur weil Sie es mir befehlen.« Sie setzte die Tasse an und trank. Der Kaffee war gut, stark und bitter, aber nicht mehr heiß.
Und so kamen sie zu einer Übereinkunft. Sie würde nur Nermin Bericht erstatten, sie würde allein im Einsatz sein und ihre Ziele größtenteils selbst aussuchen. Ab und zu hat Nermin sie gebeten, jemand Bestimmten zu eliminieren, oder sie in einem bestimmten Gebiet eingesetzt, und bislang hat sie ihm immer entgegenkommen können.
Sie ist sich jetzt bewusst, dass es die Frau, die damals in diesem Büro saß und sagte, sie wolle niemanden töten, nicht mehr gibt, dass sie mit jeder Woche, die verstreicht, weniger zuversichtlich ist, dass all das irgendwann zu Ende gehen wird. Die Rahmenbedingungen ihrer Abmachung verlieren allmählich jede Bedeutung.
Das mindert jedoch nicht ihre Entschlossenheit. Ihr Wunsch, an ihren Bedingungen festzuhalten, wird dadurch eher noch stärker. Denn obwohl sie die Person, die sie gewesen ist, fast völlig aus dem Blick verloren hat, weiß sie noch immer, wer sie sein möchte, und soweit sie das beurteilen kann, führt der Weg dazu nur über den Menschen, der sie einst war.
Nermin schaut sie eine ganze Weile an. Sie sieht, dass er überlegt, ob er etwas zu ihr sagen soll, und vermutet, dass es um ihre Rolle bei der Verteidigung der Stadt geht, aber er lässt es sein. Er steht auf und geht an ihr
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