Der Cellist von Sarajevo
vorbei, öffnet die Tür und bedeutet ihr mit einer kurzen Handbewegung, dass sie ihm folgen soll.
»Ich muss Ihnen etwas zeigen«, sagt er und dreht sich zu ihr um. »Keine Sorge. Diese Sache ist so sauber, wie es nur geht.«
»Warten Sie«, sagt Nermin und schaut auf seine Uhr. »Es ist gleich so weit.«
Strijela kennt diese Straße gut. Sie liegt im Herzen der Stadt, kurz hinter der Stelle, wo die türkischen Häuser von den österreich-ungarischen abgelöst werden. Weiter vorn ist Titos Kriegerdenkmal, die ewige Flamme, die ausgegangen ist. Hinter ihr befindet sich eine Straße, wo sie sich früher immer mit Freunden aus der Uni zum Kaffee traf, und der Fluss liegt nicht weit im Süden. Dahinter erheben sich die Berge, auch der Trebević, auf den man einst mit der Seilbahn fahren konnte.
Sie stehen gegenüber der Markthalle, im Eingang eines Geschäfts, das nicht mehr geöffnet ist. Strijela weiß, dass unlängst eine Mörsergranate in dieser Straße eingeschlagen und zahlreiche Menschen getötet hat. Sie hat im Radio davon gehört, sich seinerzeit aber keine großen Gedanken über den Vorfall gemacht, obwohl es ein bisschen ungewöhnlich war, dass so viele Menschen auf einen Schlag umkamen. Es war eben einfach so. In Lebensgefahr schwebte man überall, daher war es nicht allzu überraschend, wenn so etwas tatsächlich passierte. Jetzt allerdings, da sie auf dieser Straße steht, hat sie das Gefühl, dass hier etwas Bedeutsames geschehen ist.
Westlich von ihnen ertönt eine Explosion, und Strijela blickt unwillkürlich in die Richtung.
Nermin lächelt, ohne hinzuschauen. »Ich glaube, sie wollen uns eine Nachricht zukommen lassen.«
»Was für eine Nachricht?«, fragt sie und schaut wieder zu Boden, als eine andere Granate in der gleichen Gegend einschlägt.
Nermin zuckt die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich höre bewusst nicht hin. Ah, da kommt er.«
Zunächst traut Strijela ihren Augen kaum. Sie fragt sich sogar, ob sie womöglich unter Halluzinationen leidet oder vielleicht tot ist und auf diese Weise der Übergang in das, was danach kommt, vonstatten geht, über eine Reihe unglaublicher Ereignisse.
Ein großer Mann mit wirren schwarzen Haaren, einem fast schon komischen Schnurrbart und der traurigsten Miene, die sie je gesehen hat, kommt aus einer Tür. Er trägt einen leicht eingestaubten Frack, hat ein Cello unter dem einen Arm und einen Hocker unter dem anderen. Mit ruhigen, entschlossenen Schritten tritt er aus dem Haus, offenbar ohne sich der Gefahr, in die er sich begibt, bewusst zu sein, stellt den Hocker mitten auf die Straße, setzt sich hin und klemmt sein Instrument zwischen die Knie.
»Was macht er da?«, fragt sie, aber Nermin antwortet nicht.
Der Cellist schließt die Augen, sitzt reglos da und lässt die Arme hängen. Es sieht aus, als stünde das Cello aus eigener Kraft, losgelöst von dem Mann, der es hält. Satt und warm schimmert es vor dem tristen Grau der zertrümmerten Pflastersteine, und sie möchte es am liebsten berühren, mit den Fingern über das lackierte Holz streichen. Unwillkürlich streckt sie die Hand aus, als könnte sie so die rund hundert Schritte überbrücken, die sie von dem Cello entfernt ist.
Der Cellist öffnet die Augen. Die Trauer, die sie in seinen Zügen gesehen hat, ist verflogen. Sie weiß nicht, wo sie geblieben ist. Er hebt die Arme, greift mit der linken Hand um den Hals des Cellos und führt mit der rechten den Bogen an den Resonanzkörper. Es ist das Schönste, was sie jemals gesehen hat. Als die ersten Töne erklingen, kann sie nichts hören. Die Welt ist ohne jeden Laut.
Sie lehnt sich an die Wand. Sie ist nicht mehr da. Ihre Mutter hebt sie hoch und wirbelt sie lachend herum. Die warme Zunge eines Hundes leckt über ihren Arm. Sie spürt den Luftzug, als ein Schneeball an ihrem Gesicht vorbeifliegt. Sie rutscht auf einer Blutlache aus und landet auf der Seite, sieht wenige Zentimeter vor sich einen abgerissenen Arm. Ein Junge, den sie mag, versucht sie im Kino zu küssen und legt ihr die Hand auf den Bauch. Sie atmet aus und drückt den Abzug durch.
Dann kehren die Laute zurück. Sie ist sich nicht sicher, was geschehen ist. Sie weiß nicht, was der Mann, der um vier Uhr nachmittags auf der Straße Cello spielt, mit ihr gemacht hat. Du wirst nicht weinen, sagt sie sich, du wirst ruhig bleiben, bis der Cellist geendet hat, aufgestanden und in das Haus zurückgekehrt ist. Sie wird sich nichts anmerken lassen.
Sie bemerkt, dass Nermin
Weitere Kostenlose Bücher