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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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sie anschaut.
    »Sie müssen dafür sorgen, dass dieser Mann am Leben bleibt«, sagt er.
    »Ich verstehe nicht recht.« Sie hat kaum gehört, was er gesagt hat, und bemüht sich darum, wieder zur Besinnung zu kommen.
    Nermin nimmt die Mütze ab und wischt sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. »Er hat gesagt, er wird das zweiundzwanzig Tage lang machen. Das ist der achte Tag. Die Leute sehen ihn. Alle Welt hat ihn gesehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass er getötet wird.«
    »Ich kann nicht die Verantwortung für ihn übernehmen«, sagt sie. Sie stellt fest, dass sie müde ist, was zwar fast immer der Fall ist, aber sie kann sich nicht entsinnen, wann sie es das letzte Mal vor sich selbst zugegeben hat. Eine alte Frau schlurft vorbei, hält sich dicht an der Wand, und Strijela fragt sich, ob sie genauso erschöpft ist wie die Alte.
    Nermin schüttelt den Kopf. »Das verlange ich gar nicht. Wir erwarten etwas anderes.«
    Die Stelle, an der der Cellist sitzt, erklärt er, ist zwar dem Artilleriefeuer ausgesetzt, liegt aber nicht im Schussfeld der Heckenschützen auf den Bergen im Süden. Aber sie haben Hinweise erhalten. Man glaubt, dass der Feind einen Heckenschützen in diesen Teil der Stadt schicken wird, der ihn erschießen soll. Und sie hat die Aufgabe, das zu verhindern. Sie sind sich darüber im Klaren, dass es fast unmöglich ist. Aber sie hat, wie Nermin sie erinnert, gewisse Gaben und kann Unmögliches vollbringen.
    »Warum nehmen sie die Straße nicht einfach wieder unter Artilleriebeschuss?«
    »Es geht nicht darum, ihn irgendwie zu töten. Wenn sie ihn erschießen, ist das eine klare Aussage uns gegenüber.«
    Strijela lehnt sich wieder an die Wand und stellt sich vor, wie der Cellist auf der Straße liegt. Sie erkennt, worauf Nermin hinauswill. Eine Kugel hinterlässt Beweise wie keine Granate.
    »Schauen Sie«, sagt er, »ich habe mit Ihnen eine Abmachung getroffen, und ich werde auch weiterhin mein Bestes tun, um sie einzuhalten. Aber auf unserer Seite verändert sich einiges. Wenn Sie das schaffen, würde es uns beiden nützen.«
    »Ich töte nicht, weil es mir oder Ihnen etwas nützt.«
    »Ich weiß. Ich bin mir nur nicht sicher, wie lange Sie oder ich uns diese Haltung noch leisten können.« Nermin beugt sich vor, küsst sie auf beide Wangen, wendet sich dann ab und geht weg. Sie steht eine Zeitlang da, ohne sich zu regen, ohne nachzudenken. Sie möchte nur, dass alles ruhig bleibt. Aber dann setzt der Beschuss wieder ein, und daher zwingt sie sich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen, zieht den Mantel enger um ihre Schultern und geht nach Hause.

Dragan
    Möglicherweise ist der Heckenschütze weg. Seit dem letzten Schuss sind mindestens zehn Minuten vergangen, und einige Leute haben bereits unbehelligt die Straße überquert. Dragan tritt näher an den Straßenrand und überlegt, ob er loslaufen soll. Er ist hungrig, spürt seinen leeren Magen, der ihn dazu drängt, die Straße zu überqueren. Die Bäckerei ist auf der anderen Seite. Er muss nur noch über zwei möglicherweise gefährliche Straßen, dann kommt er an Brot. Aber andererseits weiß er auch, dass es nicht eilt. Er wird nicht verhungern, wenn er ein paar Minuten länger wartet, aber wenn er unvorsichtig ist, nun ja, dann kann er getötet werden, ehe er sich’s versieht.
    Er tritt ein Stück zurück und lehnt sich an das warme Metall eines Eisenbahnwagens, der ihm Deckung vor Grbavica und den Bergen darüber bietet, vor Vraca, dem alten Fort. Früher hat er seine Frau und seinen Sohn im Sommer immer zum Picknick nach Vraca mitgenommen, wenn sie keine Zeit hatten, in den Park von Ilidža oder auf den Trebević zu fahren. Von dort aus konnte man einen Großteil der Stadt überblicken, aber seit etlichen Monaten hat das eine ganz andere Bedeutung.
    Von rechts nähert sich eine Frau, und nach einem kurzen Blick stellt Dragan fest, dass er sie kennt. Emina heißt sie. Sie ist eine Freundin seiner Frau, vielleicht fünfzehn Jahre jünger als er. Dragan mochte sie schon immer, machte sich aber nicht viel aus Jovan, ihrem Mann. Jedes Mal, wenn sie gemeinsam zum Abendessen gingen, was sie vor dem Krieg regelmäßig taten, musste Dragan ständig mit Jovan reden, der sich offenbar nur für Politik interessierte, ein Thema, das Dragan langweilte. Nach einer Weile brachte er Ausflüchte vor, damit er nicht mitmusste, bis kurz vor Ausbruch der Kampfhandlungen keine Einladungen mehr kamen und seine Frau und Emina den Kontakt zueinander

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