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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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Großteil der Stadt abgebrannt. Selbst jetzt noch kann Kenan erkennen, wo das Feuer eingedämmt wurde, wo die alten türkischen Häuser aufhören und die österreich-ungarischen anfangen.
    Doch Kenan denkt nicht an die Brandnacht, sondern an den Tag danach. Daran, wie es ausgesehen haben musste. Ließ es sich mit dem heutigen Anblick vergleichen? War das Hotel Europa nichts anderes als ein Tashlihan dieses Jahrhunderts? Er weiß es nicht. Aber der große Brand war wenigstens schnell vorüber. Er weiß nicht, wann das hier vorüber sein wird, ob dies das Ende ist oder erst der Anfang. Und er weiß nicht, wie die Stadt aussehen wird, wenn es endet. Wie, so fragt er sich, will man das alles wiederaufbauen? Bauen die Menschen, die die Stadt zerstört haben, sie auch wieder auf? Wird sie wiederhergestellt, nur damit man sie eines Tages erneut auslöschen kann, oder werden die Menschen glauben, dass sie diese Aufgabe zum letzten Mal in Angriff nehmen müssen, dass sie diesmal für die Ewigkeit bauen? Er glaubt jedenfalls, dass der Charakter derjenigen, die die Stadt wiederaufbauen, wichtiger ist als die Haltung derer, die sie zerstört haben. Natürlich sind die Männer auf den Bergen bösartig. Daran gibt es nichts zu deuteln, wie man es auch betrachtet. Aber wenn Menschen mit fragwürdigem Charakter eine Stadt neu erstehen lassen, wie wird sie dann? Er denkt an die Männer in den schicken Autos, die seine Waschmaschine für ein paar Pfund Kartoffeln und Zwiebeln gekauft haben. Sie sollten das neue Sarajevo nicht erschaffen, falls es so etwas jemals geben sollte.
    Er ist fast bei der Princip-Brücke. Früher hieß sie Lateinerbrücke, dort ereignete sich 1914 der Anschlag, der den Ersten Weltkrieg auslöste. Die Fußabdrücke des Attentäters Gavrilo Princip kennzeichneten einst die Stelle, an der er stand, als er den österreichischen Thronfolger und seine schwangere Frau tötete, aber jetzt sind sie verschwunden, zerstört oder gestohlen. Die letzten Worte von Erzherzog Franz Ferdinand an seine Frau lauteten: »Sopherl! Sopherl! Sterbe nicht! Bleibe am Leben für unsere Kinder!« Er sollte gar nicht dort sein, an dieser Stelle, aber er bestand darauf, das Krankenhaus zu besuchen, in dem die Opfer eines früheren Anschlags auf ihn lagen. Princip hatte sein Vorhaben an diesem Tag bereits aufgegeben und saß beim Essen, als er den Wagen des Erzherzogs sah, trat dann auf die Straße und gab zwei Schüsse ab. Kenan war noch nie in dem kleinen Museum, in dem an das Attentat erinnert wird, und jetzt ist es zerstört. Er hat sich immer ein bisschen dafür geschämt, dass alle Welt im Zusammenhang mit Sarajevo immer an diesen Mord dachte. Er weiß nicht, wie man heute über die Stadt denkt, wo schon Tausende ermordet wurden. Er vermutet, dass man im Rest der Welt am liebsten gar nicht daran denken möchte.
    Er will sich gerade nach Süden, zur Brücke hin wenden, als ein Mann um die Ecke gerannt kommt. Sobald er hinter den Häusern in Sicherheit ist, sinkt er atemlos zusammen. »Heckenschützen«, sagt er und deutet zu der Brücke. »Sie schießen vom linken Ufer aus.«
    »Ich will zur Brauerei«, sagt Kenan und hilft dem Mann auf die Beine.
    »Dann sollten Sie lieber über die Šeher Cehaja gehen.«
    Kenan zögert. Die Šeher Cehaja ist die östlichste Brücke über die Miljacka, und wenn er sie nimmt, muss er einen großen Umweg machen, fast die doppelte Strecke. Schon jetzt sind es noch anderthalb Kilometer bis zur Brauerei, dann wären es noch zwei mehr. »Sind Sie sich sicher?«
    Der Mann zuckt die Achseln. »Das müssen Sie wissen. Vielleicht ist er kein guter Schütze. Mich hat er verfehlt.«
    Kenan verwirft alle Gedanken, ob er das Risiko nicht doch eingehen und über die Brücke gehen sollte, als ganz in der Nähe eine Granate einschlägt, wahrscheinlich irgendwo am anderen Ufer. Ein kurzer Feuerstoß ertönt, dann schlägt eine weitere Granate ein. Kenan spürt, wie ihn die Panik packt, und versucht ein paarmal tief durchzuatmen. Er hat einen trockenen Mund.
    »Ist schon gut«, sagt der Mann. »Hier können sie uns nicht kriegen.« Kenan weiß, dass es nicht stimmt, aber auf den Zuspruch hin geht es ihm wieder besser, zumal ihm klar wird, dass die Granaten nicht ihnen gelten. Anscheinend entfernen sich die Einschläge wieder, zumindest kommen sie nicht näher.
    Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Umweg zu machen, deshalb wünscht er dem Mann viel Glück und läuft etwa fünfzig Meter zurück, in Richtung

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