Der Cellist von Sarajevo
sich. Als er nah genug ist, streckt er die Hand aus und ergreift ihn. Aus irgendeinem Grund gibt die Taube den Widerstand auf, verfällt vielleicht in Schockstarre. Der Mann hält sie mit einer Hand fest und dreht ihr mit der anderen den Hals um. Dann löst er den toten Vogel von der Schnur und steckt ihn in einen Sack.
Der Mann steht auf.
»Machen Sie für heute Schluss?«, fragt Kenan.
Der alte Mann nickt. »Ich habe sechs gefangen, für jeden Mitbewohner eine. Ich nehme nur so viele, wie ich brauche. Wenn ich nicht zu gierig bin, sind sie morgen vielleicht auch noch da.«
»Viel Glück«, sagt Kenan.
»Gleichfalls, der Herr.« Der Mann nimmt den Sack und die Angelrute und geht über den Platz in Richtung Norden, nach Vratnik.
Kenan bleibt noch eine ganze Weile stehen, nachdem der Mann gegangen ist. Er hat noch nie ein Tier getötet, außer ein paar Fischen, doch der Gedanke daran stört ihn nicht weiter. Aber mit den Tauben fühlt er sich unwillkürlich verbunden. Er hält es für möglich, dass auch die Männer auf den Bergen die Menschen von Sarajevo langsam töten, jeweils ein halbes Dutzend, damit am nächsten Tag noch ein paar übrig sind, die man umbringen kann.
Strijela
Das Büro des Kommandeurs von Strijelas Einheit ist eher unscheinbar. Ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch und drei Stühlen, ein mit Brettern vernageltes Fenster, ein fleckiger Teppich auf dem abgetretenen Holzboden. Das Ganze wird von einer nackten Glühbirne beleuchtet, gespeist von einem Generator, den man in einem Nebenzimmer vor sich hin tuckern hört. Die Birne hängt an einem Draht über dem Schreibtisch, mitten im Zimmer, und wenn sie in den nächsten zehn Minuten darauf blickt, wird sie von einem gleißenden Lichtkreis geblendet, den sie hinterher noch lange vor Augen haben wird. Sie weiß nicht recht, ob man sie mit Absicht an einer Stelle angebracht hat, auf die man zwangsläufig schauen muss, weil man die Leute dadurch einschüchtern will, oder ob man nur keine Ahnung von Raumgestaltung hat. Ihrer Erfahrung nach zeichnet sich das Militär sowohl durch seine Einschüchterungsmethoden als auch durch Geschmacklosigkeit aus.
»Man hat Sie seit einiger Zeit beobachtet«, sagt ihr Kommandeur, der hinter Strijela steht und ihr die Hand auf die Schulter legt, als wollte er sie ermutigen. Strijela fragt sich, ob er sich auf den Vorfall von heute Morgen bezieht, auf den feindlichen Heckenschützen, der ihr nachgestellt hat. Während sie darüber nachdenkt, wird ihr die Berührung zusehends unangenehmer, fast unheimlich. Sie kämpft gegen den Drang an, die Hand wegzuschlagen, aufzustehen und ihrem Kommandeur an die Gurgel zu gehen.
»Viele Leute sind von Ihren Fähigkeiten beeindruckt«, fährt er fort. Strijela wird klar, dass er nicht über den Heckenschützen von heute Morgen spricht, und sie beruhigt sich ein bisschen. Er nimmt die Hand von ihrer Schulter, setzt sich hinter den Schreibtisch und schaut sie an.
Nermin Filipović ist ein gutaussehender Mann, der einen zerknitterten, aber sauberen Tarnanzug trägt. Sein Bart ist ordentlich gestutzt, die dunklen Haare sind zwar ein bisschen lang, aber Strijela kann sich vorstellen, dass sie sich weich anfühlen. Er ist Ende dreißig und, soweit sie weiß, nicht verheiratet. Über dem rechten Auge hat er eine kleine Narbe an der Stirn, und der Nagel des rechten Zeigefingers ist dunkelblau verfärbt, als habe er unlängst einen heftigen Schlag erhalten.
Er ist Berufssoldat. Als der Krieg ausbrach und Europas viertgrößte Armee sich wider das eigene Volk wandte und die Stadt umstellte, war er einer der wenigen Berufsoffiziere, die den Dienst quittierten und die Stadt gegen ihre ehemaligen Kameraden verteidigten. Wenn sie scheitern und Sarajevo fällt, wenn die Männer auf den Bergen tatsächlich in die Stadt einrücken, wird er einer der ersten sein, die sie exekutieren. Strijela weiß nicht genau, welchen Platz sie auf deren Todesliste einnimmt, aber sie ist davon überzeugt, dass sie darauf steht. Sie hat keine Ahnung, wie viel sie über sie wissen.
»Wir haben einen Spezialauftrag für Sie. Einen wichtigen Auftrag.«
Strijela nickt. Sie hat vermutet, dass es auf so etwas hinausläuft. Bislang hat man sie ihre Opfer selbst aussuchen lassen, hat sie mehr oder weniger in Ruhe gelassen, natürlich unter der Bedingung, dass ihre Kugeln die richtigen Ziele treffen. In letzter Zeit jedoch hat sie gespürt, dass man mehr auf sie achtet, und sie weiß, dass man sie früher oder
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