Der Cellist von Sarajevo
Norden, nur um sicherzugehen, dass er weit weg von dem Gebiet ist, das die Männer auf den Bergen beschießen. Er wendet sich gen Osten, als er zum Süßen Eck kommt, das seinen Namen wegen der zahlreichen Konditoreien erhielt, die es um die Jahrhundertwende hier gab, und an der Grenze zwischen dem orientalischen und dem im westlichen Baustil errichteten Teil der Altstadt liegt.
Als er nach Baščarija gelangt, dem alten türkischen Wohnviertel, kommt er sich vor, als kehrte er zu einem Tatort zurück. Seit dem Tag, an dem die Bibliothek abbrannte, ist er nicht mehr hier gewesen, und obwohl er noch ein ganzes Stück entfernt ist, spürt er ihre Nähe. Aus irgendeinem Grund macht ihm das Durcheinander aus zertrümmerten Dachziegeln und geborstenen Steinen mehr zu schaffen als an anderen Stellen. Ein paar Leute sind auf der Straße, und in einer Gasse sieht er eine Reihe von Blechwarenhändlern, die ihre Ware feilbieten. Seit Monaten schon fertigen sie aus Kugeln und Granatenhülsen Stifte, Teller und alle möglichen Gegenstände, die sich verkaufen lassen. Einer der Männer hat einen kleinen Holzofen gebaut, und Kenan fragt sich, wie viel er wohl dafür verlangt, ist sich aber darüber im Klaren, dass er wahrscheinlich nicht genug Geld dabei hat.
In Bašćaršija lebt kaum noch jemand. Ein halbes Jahrtausend lang war dies der Stadtteil, in dem man einkaufte, wo jeder Handwerksberuf eine Straße für sich hatte. In den letzten Jahren hat sich das etwas gelockert, da immer mehr Läden auch für Touristen bestimmte Waren verkaufen. Aber Touristen sind keine mehr da, und die Läden sind jetzt ebenso geschlossen wie alles andere. Nördlich von ihm ist der Sebilj, ein Brunnen mit einem Pavillon, der als Treffpunkt dient beziehungsweise gedient hat. Da er sich mitten auf einem großen Platz befindet, sollte man derzeit lieber nicht dort verweilen. Nur Tauben sind so dumm oder so tapfer, dass sie sich dort tummeln.
Während er am Sebilj vorbeigeht und sich so nahe wie möglich im Schutz der Häuser hält, hört Kenan eine der Tauben schreien und sieht, wie andere wegflattern. Die Taube schlittert auf ihn zu, als würde sie von etwas gezogen. Kenan bleibt verdutzt stehen und sieht, wie der Vogel in einem Hauseingang unmittelbar vor ihm verschwindet. Der Schrei reißt ab, und kurz darauf fliegt ein Brocken Brot aus dem Eingang. Er schaut genauer hin und sieht, dass er an irgendetwas befestigt ist. Allmählich kehren die Vögel zurück, und als sich einer näher an das Brot vorwagt, wird ihm klar, was hier vor sich geht. Jemand fängt Tauben.
Er geht ein paar Schritte weiter und schaut in den Hauseingang. Dort hockt ein alter Mann mit einer kurzen Angelrute und blickt gespannt auf den Platz und den Brotbrocken. Er sieht Kenan und winkt kurz, als wollte er ihm bedeuten, dass er auf die Schnur achten soll.
»Wie läuft es heute?«, fragt Kenan mit leiser Stimme, um die Tauben nicht aufzuschrecken.
»Sie beißen gut«, sagt der Mann, ohne den Blick von dem grauen Vogel zu wenden, der den Brotbrocken beäugt.
»Braucht man um diese Jahreszeit einen Angelschein?«, fragt er lächelnd, damit der Mann begreift, dass es ein Scherz ist.
Der Mann schaut ihn misstrauisch an, als wolle er feststellen, ob er es mit einer Art Amtsperson zu tun hat. Dann lächelt er ebenfalls. »Natürlich. Man braucht einen Schein für den Fang und auch einen für die Rute.«
»Wo kriegen Sie den Schein?«
Der Mann deutet auf die Berge. »Da droben kriegt man die. Laufen Sie einfach weiter, bis Sie das Amt finden.«
Die Taube ist jetzt ganz nah. Anscheinend ist ihr die Sache nicht ganz geheuer, aber hinter ihr kommt eine andere, daher muss sie sich entscheiden. Sie läuft auf das Brot zu.
»Ist das teuer?«, fragt Kenan.
Der Mann schüttelt den Kopf. »Nein, aber die Schlange ist ziemlich lang. Könnte sein, dass Sie eine ganze Weile warten müssen.«
Die graue Taube hopst vor ihrer Rivalin davon und stürzt sich auf das Brot. Sie verschlingt den ganzen Brocken, aber einen Moment lang geschieht gar nichts. Die Taube ist offenbar mit sich zufrieden. Sie hat eine kleine Mahlzeit ergattert. Das Leben ist schön. Dann gibt es einen Ruck, und sie stößt einen schrillen Schrei aus, als der Mann die Schnur einholt. Sie versucht wegzufliegen, aber wieder zerrt der Mann an der Schnur und zieht sie zu Boden.
»Manchmal versuchen sie wegzufliegen, manchmal nicht«, sagt er. »Ich weiß nicht, wovon das abhängt.«
Er drillt den sich wehrenden Vogel zu
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