Der Cellist von Sarajevo
Nach dem Krieg flüchtete er in die Vereinigten Staaten, wo sein Name bis zum heutigen Tag auf einer Liste der dort ansässigen Kriegsverbrecher steht. Viele der Toten waren Väter und Großväter der Männer auf den Bergen, aber auch der Menschen, auf die sie schießen.
»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er zu mir gesagt: ›Was da kommt, ist schlimmer als alles, was du dir vorstellen kannst‹«, sagt Dragan. »Er hat sich an dem Tag, an dem der Krieg ausbrach, das Leben genommen.«
Emina schüttelt den Kopf. »Es kann doch nicht so schlimm sein wie das, was in den Lagern passiert ist.«
Dragan denkt darüber nach und fragt sich, inwieweit sich Leid miteinander vergleichen lässt. »Nein, das nicht. Meiner Meinung nach hat er das auch nicht erwartet. Aber ich nehme an, er hat geglaubt, dass das, was er und andere dort erleiden mussten, irgendeinen Sinn gehabt hat, dass die Menschen etwas daraus gelernt haben. Haben sie aber nicht.«
»Haben sie nicht?«, fragt Emina.
»Schau dich doch um.«
Es sollte nur eine Redensart sein, aber Emina schaut sich tatsächlich um. Dragan tut es ihr gleich und fragt sich, ob sie dasselbe sieht wie er. Sieht sie, dass alles grau ist? Sieht sie die zerstörten Häuser, die Trümmer auf den Straßen, die Menschen, die dürr und müde geworden sind, herumschleichen wie verschreckte Tiere? Sie muss es mitbekommen. Wie könnte sie es übersehen?
Er weiß nicht, warum sie ihn angesprochen hat, warum sie nicht einfach weitergegangen ist und so getan hat, als wäre er nicht da. Sie hätte es nicht tun müssen. Er musste nicht sehen, wie viel der Krieg ihr genommen hat, und er musste auch nicht daran erinnert werden, wie viel er ihm genommen hat.
»Eine Folge des Krieges ist«, sagt sie, »dass ich viele Straßen entlanggelaufen bin, in denen ich vorher noch nie war. Er hat mein ganzes Stadtbild verändert.«
Dragan nickt. Ihm ist es genauso ergangen, auch er hat zu seinem Erstaunen erfahren, wie viele Viertel der Stadt, in der er ein Leben lang gewohnt hat, er überhaupt nicht kannte, obwohl sie nur ein, zwei Straßenzüge entfernt waren, und dass eine Granate hier und ein Heckenschütze dort darüber bestimmen können, welche Straßen einem vertraut sind und welche nicht.
»In der Nähe meines Hauses gibt es eine Straße, die ich noch nie entlanggelaufen bin, weil sie nicht auf meinem Weg lag«, fährt Emina fort. »Aber da am Ende meiner Straße ein Heckenschütze war, musste ich einen Umweg machen, und plötzlich war ich in dieser anderen Straße. Da gab es ein Haus, in dessen Garten ein großer Kirschbaum voller reifer Früchte stand. Eine alte Frau war in dem Garten und hat die Kirschen gepflückt. Sie muss fünfzehn bis zwanzig Kilo gepflückt haben, und am Baum hingen noch mehr. Ich bin zu ihr hingegangen, hauptsächlich, weil ich in Sarajevo noch nie so einen Baum gesehen hatte, keine Ahnung hatte, dass es hier Kirschen gibt. ›Das ist ein herrlicher Baum‹, habe ich zu ihr gesagt, und sie hat mir erzählt, dass ihre Mutter ihn gepflanzt hat, als sie ein Mädchen war, und dass er seit jeher gut getragen hat. Sie hat die Früchte für ihre Enkel gepflückt, sagte aber, dass sie ein bisschen besorgt sei, weil man Kindern nicht nur Süßigkeiten geben kann. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass sie einen Teil der Kirschen verkaufen soll, und sie hat gesagt, sie hätte auch daran gedacht und würde es vielleicht auch machen. Zufällig hat Jovan ein paar Tage später Salz mit nach Haus gebracht, das er von jemandem bekommen hat, eine riesige Fünf-Kilo-Packung. Weit mehr, als wir gebraucht haben oder verwenden konnten. Ich dachte an die alte Frau, und als ich wieder vorbeikam, habe ich ihr ein Kilo gebracht.«
Eminas Gesicht wirkt gelöst, ihre Stimme ist leise und ruhig. Dragan weiß nicht recht, was sie ihm sagen will, worauf sie hinaus will, aber er freut sich, dass sie es ihm erzählt.
»Die Frau war außer sich. Ich habe noch niemals jemanden so lächeln sehen. Sie hat mich sogar umarmt. Wegen einem Kilo Salz. Als ich ging, hat sie mir zwei große Eimer voller Kirschen mitgegeben. Viel zu viele. ›Die kann ich nicht alle essen‹, habe ich gesagt. ›Ich habe keine Kinder, mein Mann und ich sind allein.‹ Aber sie hat nicht lockergelassen. ›Verschenken Sie sie‹, hat sie gesagt. ›Machen Sie damit, was Sie wollen. Ich habe mehr, als ich gebrauchen kann.‹ Und so habe ich sie unseren Nachbarn gegeben, einen kleinen Korb für jede der zehn Familien.«
»Ich
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