Der Cellist von Sarajevo
ein paar Leuten, als sie den Berg hinab in die Altstadt läuft, vermeidet aber jeden Blickkontakt. Sie kommt an den Überresten eines Geschäfts vorbei, in dem es einst das beste Eis der Stadt gab, und erinnert sich daran, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Großmutter hier war. Mit quengelnder Stimme, wie ein Kind, das es gewohnt ist, seinen Willen zu bekommen, hatte sie ihre Großmutter gebeten, stehen zu bleiben, obwohl sie erst knapp eine Stunde vorher ein Eis bekommen hatte. Als sich ihre Großmutter weigerte, riss sich Strijela von ihr los und wollte nicht mehr weitergehen. Ihre Großmutter kniete sich hin, nahm Strijelas Gesicht in die Hände und küsste sie auf die Stirn.
»Das Leben besteht nicht nur aus Eis«, sagte sie.
Strijela fragt sich, während die Erinnerung verblasst, was sie heute für eine Kugel von diesem Eis gäbe. Alles Geld, das sie hat? Bestimmt. Ihr Gewehr? Vielleicht. Das einzige übriggebliebene Foto von ihrer Großmutter? Sie schüttelt den Kopf und läuft schneller, verkneift sich die Antwort.
Das ist ihre liebste Tageszeit. Es ist fast immer ruhig. Selbst der Krieg legt ab und zu eine Ruhepause ein, wenn auch nur kurz. Der ausbleibende Artilleriebeschuss ist fast wie Musik, und sie stellt sich vor, dass sie sich, wenn sie die Augen schließen würde, einreden könnte, sie liefe durch die Straßen eines Sarajevo, wie es früher einmal war. Beinahe jedenfalls. Sie weiß, dass sie in der Stadt, an die sie sich erinnert, keinen Hunger hatte, keine blauen Flecken, und dass kein Gewehr auf ihrer Schulter lastete. In der Stadt, an die sie sich erinnert, waren um diese Zeit immer Menschen unterwegs und bereiteten sich auf den Tag vor. Sie verbarrikadierten sich nicht wie Invaliden in ihren Wohnungen, erschöpft von einer weiteren Nacht, in der sie sich ständig fragten, ob ihr Haus diesmal von einer Granate getroffen werden würde.
Sie ist an ihrem Ziel angekommen. Sie steht dort, wo sie tags zuvor stand, lehnt sich mit dem Rücken an die gleiche Wand und nimmt die Straße in Augenschein. Pflastersteine, die Generationen überdauerten, sind auseinandergebrochen. In den Fenstern ist kein Glas mehr, einige sind mit Plastikplanen verkleidet, andere leer, wie Zahnlücken im Mund eines alten Mannes. Die Straße ist versehrt.
Strijela geht auf die andere Seite und setzt sich an die Stelle, wo die Mörsergranate eingeschlagen hat, die Stelle, an der später der Cellist sitzen wird. Inzwischen weiß sie, dass hier zweiundzwanzig Menschen gestorben sind und zahlreiche andere verletzt wurden, Menschen, die nie wieder gehen, etwas sehen oder berühren werden. Weil sie Brot kaufen wollten. Ein einfacher Entschluss. Nichts, über das man groß nachdenkt. Man hat Hunger, man kommt hierher, weil es vielleicht Brot zu kaufen gibt. Ausgerechnet hierher kommt man. Und ausgerechnet an diesem Tag erwischt es einen. Um vier Uhr nachmittags. Man macht es einfach, weil das Leben aus einer Reihe kleiner, unvermeidlicher Entscheidungen besteht. Und dann jagen ein paar Männer auf den Bergen eine Granate durch die Luft, die einen tötet. Für sie war es wahrscheinlich nur eine von vielen Granaten an diesem Tag. Nicht weiter bemerkenswert.
Sie bückt sich und hebt eine kleine Glasscherbe auf. In der Stadt gibt es kaum noch Glas. Es ist entweder zersprungen oder entfernt worden, damit keine tödlichen Geschosse entstehen, wenn es doch irgendwann birst. Eine Scheibe nach der anderen verschwindet aus den Fenstern, durch die die Menschen die Welt sehen.
Das Leben, glaubt sie jetzt, schreitet so voran. Eine Kleinigkeit nach der anderen. Eine Reihe von belanglosen Wegkreuzungen, von denen jede oder keine zur Rettung oder ins Verhängnis führen kann. Es gibt keine großen Momente, in denen jemand eine Tat vollbringt oder auch nicht, die seine Menschlichkeit bestimmt. Es gibt nur Momente, in denen es kurz so zu sein scheint.
Gilt das auch, überlegt sie weiter, für den Augenblick, wenn sie den Abzug durchdrückt und einem Leben ein Ende setzt? Bevor sie zum ersten Mal tötete, hatte sie angenommen, es würde sie an einen Scheideweg führen. Sie würde sich auf eine Art und Weise verhalten, die den Menschen, zu dem sie geworden war, klar abgrenzte. Sie erwartete, sich irgendwie anders vorzukommen als die Person, die sie war oder zu sein hoffte. Aber das war nicht der Fall. Abzudrücken war das Einfachste auf der Welt, eine Nichtigkeit. Alles, was vorher kam, all die Kleinigkeiten, die sich angesammelt hatten, ohne
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