Der Cellist von Sarajevo
dass sie es überhaupt bemerkte, ließen das Töten zum Beiwerk werden. Und genau das macht sie zu einer Waffe. Eine Waffe entscheidet nicht, ob sie töten soll oder nicht. Eine Waffe ist ein Zeichen dafür, dass bereits eine Entscheidung getroffen wurde.
Der Cellist verwirrt sie. Sie weiß nicht, was er mit seinem Spiel zu erreichen erhofft, begreift nicht, worauf er hinaus will. Er kann doch nicht glauben, dass er damit den Krieg beenden wird. Er kann doch nicht glauben, dass er damit Leben rettet. Vielleicht hat er den Verstand verloren, aber das nimmt sie nicht an. Sie hat Menschen gesehen, die zusammengebrochen sind, hat sie auf die Straße laufen sehen, ohne dass sie sich um die Gefahr scherten. Sie hat sie sterben sehen, und sie hat sie leben sehen, ohne dass sie den Unterschied wahrzunehmen schienen. Der Cellist kommt ihr nicht wie jemand vor, der den Lebenswillen verloren hat. Ganz im Gegenteil, es geht ihm offenbar um Lebensqualität. Sie weiß nicht, was er glaubt, und sie weiß nicht einmal, ob sie es ebenfalls glauben möchte. Aber es muss etwas mit Bewegung zu tun haben. Was immer der Cellist beabsichtigen mag, er sitzt nicht auf der Straße und wartet darauf, dass etwas geschieht. Vielmehr, so kommt es ihr vor, beschleunigt er den Lauf der Dinge. Was auch geschehen mag, seinetwegen wird es sich früher ereignen.
Sie lässt die Glasscherbe fallen, die sie in der Hand hin und her gedreht hat, horcht auf das leise Klirren, das sie von sich gibt, als sie am Boden landet. Sie fragt sich, was daraus werden wird. Wie lange wird sie auf der Straße liegen? Wird sie zu Staub zermahlen werden, der davongeweht wird, sich mit der Welt vermischt, an einem Schuh hängenbleibt, an einem Autoreifen, am Flügel einer Taube, der Feuchtigkeit in der Luft? Strijela fragt sich, ob die Glasscherbe morgen noch hier sein wird und ob, in einem größeren Maßstab betrachtet, sie selbst sich wesentlich von einem der Splitter unterscheidet, die vergessen am Schauplatz eines Massakers liegen.
Strijela wird dafür sorgen, dass dieser Mann am Leben bleibt. Das stand zwar nie wirklich in Frage, aber sie hatte sich auch noch nicht entschieden, ob sie es tun wird. Während sie jetzt hier an seinem Platz sitzt, sagt sie sich, dass sie den Tod dieses Mannes nicht zulassen wird. Er wird das, was er tut, zu Ende bringen. Es ist nicht wichtig, ob sie versteht, was er tut oder warum. Sie versteht, dass es wichtig ist, und das genügt.
Sie wendet ihr Augenmerk den umliegenden Häusern zu. Es gibt eine Menge geeigneter Standorte für jemanden, der diese Stelle unter Beschuss nehmen will, aber alle laufen auf zwei Feuerlinien hinaus, von Osten und von Westen. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße bieten zwar viele Versteckmöglichkeiten, schirmen den Cellisten aber auch vor den Bergen im Norden und Süden ab. Folglich können sie nicht von ihrem eigenen Gebiet aus schießen. Sie müssen in ihres vordringen. Und danach werden sie entkommen wollen. Das schränkt ihre Möglichkeiten etwas ein. Sie kommt zu dem Schluss, dass der wahrscheinlichste Fluchtweg in Richtung Süden führt, über den Fluss, nach Grbavica. Daher wäre ein Schuss von der Südwestseite der Straße aus am sinnvollsten.
Aber Strijela weiß, dass sie dazu keinen gewöhnlichen Mann schicken werden. Der Großteil ihrer Heckenschützen sind entweder gedungene Söldner oder schlecht ausgebildete Soldaten. Ein Söldner würde einen derart gefährlichen Auftrag wahrscheinlich nicht übernehmen. Die sitzen lieber auf den Bergen und verdienen ihr schmutziges Geld in relativer Sicherheit. Ein durchschnittlicher Soldat hingegen besitzt nicht die Fähigkeiten, die erforderlich sind, wenn man diese Sache durchziehen und trotzdem davonkommen will, und der zuständige Befehlshaber wird kaum jemanden zu einem Selbstmordkommando losschicken. Nein, sie werden einen gut ausgebildeten Scharfschützen schicken, der sich auf sein Handwerk versteht.
Er wird nicht im Südwesten sein, weil er sich darüber im Klaren sein wird, dass ihm jeder Verteidiger den Weg nach Grbavica abschneiden wird, sobald der Cellist fällt. Es ist simple Geographie. Der Heckenschütze wird eher in die entgegengesetzte Richtung flüchten, zusehen, dass er sich in die nördlichen Berge absetzen oder in einem sicheren Haus verkriechen kann, bis die größte Gefahr vorüber ist. Jedenfalls wird er nicht nach Südwesten gehen.
Strijela blickt nach Osten und erkennt sofort, wo er sein wird. Nicht genau das Haus, aber
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