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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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gleichgültig, aber er kann wahrlich nicht behaupten, so betroffen zu sein, dass man es ihm ansieht. Und er glaubt auch, dass es vielen anderen ähnlich geht.
    »Nein«, sagt er. »Offenbar ist er kein allzu guter Schütze.«
    Sie scheint darüber nachzudenken. Er hofft, dass sie es nicht zu ernst nimmt. Er weiß nicht, wie gut der Heckenschütze ist. Er weiß lediglich, dass er beim letzten Schuss verfehlt hat. Aber er hat keine Ahnung, wie oft er geschossen hat, ohne zu verfehlen.
    »Ich glaube, ich warte ein bisschen. Ich habe es eigentlich gar nicht eilig«, sagt sie. Sie erzählt ihm, dass sie einer Frau, die ein paar Häuserblocks südwestlich der Bäckerei wohnt, Arznei bringen will. Radio Sarajevo hat einen Medikamentenaustausch organisiert, bei dem man überflüssige Arzneimittel an Leute weitergeben kann, die dringend Präparate brauchen, welche nicht mehr erhältlich sind. Jeden Tag wird im Radio durchgegeben, wer was benötigt, und wer helfen kann, tut es. Die Frau, die sie aufsuchen will, ist herzkrank und nimmt das gleiche Mittel wie Eminas Mutter, die vor etwa fünf Jahren gestorben ist. Das Präparat hat zwar das Verfallsdatum überschritten, aber es ist besser als nichts. »Schließlich«, sagt sie, »ist es bloß ein Blutverdünnungsmittel. Ich glaube nicht, dass die schlecht werden.«
    »Nein«, sagt Dragan. »Wahrscheinlich hast du recht.«
    »Es ist das gleiche Zeug wie Rattengift, und das wird auch nicht schlecht.«
    »Aha?«
    »Tja, da ist ein bisschen Arsen drin. Jedenfalls glaube ich das. Meine Mutter hat sich immer drüber lustig gemacht.«
    Dragan war Eminas Mutter einmal begegnet, ein Jahr vor ihrem Tod. Sie sah Emina sehr ähnlich, hatte aber mehr Sinn für schwarzen Humor als ihre Tochter. Auch sie hielt offenbar nicht viel von Jovan. Als er wie üblich über Politik sprechen wollte, riss sie die Arme hoch. »Du mit deiner Politik. Bei der Politik kommt nichts Gutes raus.«
    »Ohne Politik kommt nichts Gutes raus«, erwiderte Jovan kopfschüttelnd.
    »Wen von beiden«, sagte Emina, »haltet ihr für den Optimisten in der Familie?«
    Dragan und seine Frau lachten, aber die Frage verblüffte Dragan, und er war sich nicht ganz sicher, ob Emina scherzte.
    »Kennt ihr den Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten?«, fragte Eminas Mutter und schaute Jovan an, der das offenbar schon mal gehört hatte. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ein Pessimist sagt: ›Ach, meine Liebe, schlimmer kann’s gar nicht werden.‹ Der Optimist hingegen sagt: ›Sei nicht traurig. Es kann jederzeit noch schlimmer kommen.‹«
    Dragan ging nicht zur Beerdigung, als sie starb. Er weiß nicht mehr, warum. Möglicherweise war er nicht eingeladen, aber wahrscheinlich hat er irgendwelche Ausflüchte vorgebracht.
    »Kannst du dich noch an Ismira Sidran erinnern?«, fragt ihn Emina jetzt.
    Er nickt. Sie war die Leiterin einer Theatergruppe. Sie hatten vor ein paar Jahren Hair inszeniert, was ein großer Erfolg war. Dragan hat seither etliche Vorstellungen von ihr gesehen. Sie war eine Freundin von Emina, und er ist ihr einmal auf der Straße begegnet, als sie mit Emina spazieren ging. Sie kam ihm ziemlich laut und schwierig vor, und er war ein bisschen ungehalten über sie gewesen.
    »Vor kurzem war das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Erstaufführung von Hair am Broadway, und sie war mit ihrer Truppe in New York eingeladen, für einen Auftritt oder eine Feier oder irgendwas in der Richtung.« Die Sonne ist hinter einer Wolke hervorgekommen, und es wird schnell warm. Emina öffnet den obersten Knopf ihres Mantels.
    »Hat die Regierung das genehmigt?« Dragan ist überrascht. Die Behörden sind sehr wählerisch, wenn es darum geht, wer die Stadt verlassen darf.
    »Klar, anfangs. Ich habe sie gesehen, und sie hat mir erzählt, dass zweiunddreißig Leute auf der Liste stehen. ›Zweiunddreißig‹, habe ich gesagt. ›Ganz schön viele Leute.‹ Aber sie hat gesagt, dass man so viele braucht, für die Beleuchtung, die Requisiten und alles, Leute, die das Publikum nie zu sehen bekommt. Das ist schon nachzuvollziehen. Aber dann habe ich sie ein, zwei Wochen später wiedergesehen, und auf der Liste standen noch dreißig Namen, und sie hat gesagt, sie wäre immer noch nicht vollständig.«
    Dragan schüttelt den Kopf. »So viele Leute kann man doch gar nicht brauchen.«
    »Nein, aber das ist noch nicht das Schlimmste.« Emina öffnet einen weiteren Knopf an ihrem Mantel. »Als die Liste

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