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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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finde es gut, dass du ihr das Salz gegeben hast«, sagt Dragan, und er meint es ernst.
    »Ich hab’s nicht gebraucht. Sie hätte mir die Kirschen ja auch nicht geben müssen.« Emina zuckt die Achseln. »Sollten wir uns nicht immer so verhalten? Waren wir früher nicht so?«
    »Ich weiß es nicht«, sagt Dragan. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob wir so waren. Mir kommt es so vor, als ob ich überhaupt nicht wüsste, wie es früher war.« Und darum, so glaubt er, geht es den Männern in erster Linie. Natürlich würden sie sie am liebsten alle töten, aber wenn das nicht geht, dann wollen sie wenigstens dafür sorgen, dass sie vergessen, wie sie früher waren, wie sich zivilisierte Menschen verhalten. Er fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis es ihnen gelingt.
    Solange er hier steht und wartet, statt die Straße zu überqueren, werden sie siegen. Es wird höchste Zeit, dass er an diesem Tag, in diesem Augenblick seines Lebens, über die Kreuzung geht, egal, was ihn erwartet.
    »Ich glaube, ich gehe jetzt rüber«, sagt er zu Emina.
    »Gut«, sagt sie. »Ich komme nach.«
    Dragan geht zur Kreuzung. Er hat Bauchschmerzen. Als er nur noch einen Schritt von der Stelle entfernt ist, ab der es keine Deckung mehr gibt, holt er tief Luft und rennt los. Er versucht den Kopf einzuziehen, aber nach drei Schritten bekommt er Rückenschmerzen und richtet sich auf. Seine Lunge sticht, die Beine sind wie aus Gummi. Er kann kaum glauben, dass er erst ein Viertel des Weges zurückgelegt hat. Er ist sich noch nie so alt vorgekommen.
    Er spürt den Schuss, bevor er ihn hört. Ein scharfes Zischen, ein kurzer Luftzug, als die Kugel an seinem linken Ohr vorbeifliegt, dann ein trockener Knall. Einen Moment lang fragt er sich, ob er getroffen ist. Schnell wird ihm klar, dass er dann tot wäre. Er hat die Kugel gehört, und das heißt, dass ihn der Heckenschütze verfehlt hat. Er ist überrascht, verwirrt, erschrocken. Er weiß nicht, was er machen soll. Zwei Sekunden lang steht er reglos da, wie erstarrt. Es kommt ihm wie tausend Jahre vor.
    Dann rennt er los, den gleichen Weg wieder zurück. Er spürt weder seine Lunge, noch die Beine oder den Bauch. Er wird zum Automaten, zum Tier, und er flüchtet. Er wappnet sich für den nächsten Schuss, der ihn erledigen wird. Je näher er dem Güterwaggon kommt, der Deckung, desto eher rechnet er damit. Er kann Emina hinter dem Güterwaggon stehen sehen. Sie hat den Mund aufgerissen, ihr Gesicht ist verzerrt, und er meint zu hören, dass sie seinen Namen schreit.
    Seine Schulter prallt gegen Metall, seine Beine geben nach. Emina packt ihn am Arm, als er sich mühsam aufrecht hält und vor seinen Augen alles verschwimmt. Menschen fragen ihn, ob alles in Ordnung ist, und er glaubt es, kann aber nicht antworten. Dies ist das erste Mal, dass man auf ihn geschossen hat. Er ist an Orten gewesen, wo geschossen wurde, und in Gegenden, wo Granaten einschlugen, aber noch niemals hatte es jemand eigens auf ihn abgesehen. Er kann kaum glauben, was ihm widerfahren ist und dass er noch am Leben ist.
    Allmählich kommt er wieder zur Besinnung. Er ist immer noch außer Atem, hechelt wie ein Hund, stellt aber fest, dass er wieder sprechen kann. Als Emina ihn fragt, zum zehnten Mal mindestens: »Bist du verletzt?«, kann er ihr antworten.
    »Ich habe dir doch gesagt, dass er kein guter Schütze ist«, sagt er.
    Emina schaut ihn unsicher an. Irgendetwas an ihm, er wollte, er wüsste, was es ist, scheint sie zu beruhigen. Ihr Gesicht wirkt gelöster, und sie reibt ihm unentwegt über den Rücken. »Das Sarajevo-Roulette«, sagt sie. »Weitaus kitzliger als das russische.«
    Er lacht, nicht, weil es komisch ist, sondern weil es stimmt, und eine Zeitlang steht er einfach da, spürt Eminas Hand an seinem Rücken, und zum ersten Mal seit langem ist er froh, am Leben zu sein.

Strijela
    Sie zieht sich in aller Stille an, nimmt ihr Gewehr und schließt die Wohnungstür. Ihre Schritte hallen durch das Treppenhaus, obwohl sie sich bemüht, so leise wie möglich zu sein. Es ist eine architektonische Eigenart des Hauses, vermutet sie, dass es keinerlei Geräusch dämpft, und sie überlegt, ob man das als gute oder als schlechte Akustik bezeichnen sollte. Wahrscheinlich kommt es darauf an, was man von einem Treppenhaus erwartet. Es hat durchaus seine Vorteile, wenn man hören kann, wer im Flur ist.
    Die Sonne ist vor einer halben Stunde aufgegangen, aber die Straßen sind noch fast menschenleer. Sie begegnet

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