Der Cellist von Sarajevo
eingereicht wurde, standen fast zweihundert Leute darauf.«
»Hat man sie gehen lassen?«
»Nein. Die wussten, dass sie nicht zurückkommen.«
So war es früher nie. Vor dem Krieg, selbst als das Land noch kommunistisch war, konnte man reisen, wohin man wollte. Nur für vier Länder auf der Welt brauchte man ein Visum. Jetzt hingegen darf niemand ohne Erlaubnis fort. »Sie hätte es bei den ersten zweiunddreißig belassen sollen«, sagt er. »Dann hätten sie ausreisen dürfen.«
»Jovan sagt, es hätte keine Rolle gespielt. Er sagt, die hätten nicht mal die gehen lassen.«
»Mag sein. Aber vielleicht hätten einige fahren dürfen. Nur ein paar. Vielleicht wären sie alldem hier entronnen.«
Emina blickt zum Himmel auf. »Das kann keiner sagen.«
»Ich glaube, ich würde weggehen, wenn ich könnte.« Er weiß, dass es gefährlich ist, so etwas zu sagen. Die Leute sind empört über diejenigen, die fliehen. Sie gelten als Feiglinge, und auch wenn er vermutet, dass jeder, der noch bei Sinnen ist, weg möchte, werden es nur wenige eingestehen, nicht einmal sich selbst, und noch weniger würden es laut aussprechen.
Es gibt ohnehin nur zwei Möglichkeiten, hier rauszukommen. Entweder kennt man jemanden mit Beziehungen und darf durch den Tunnel, oder man hat Geld. Ansonsten sitzt man fest. Diejenigen, die vor dem Krieg Geld oder Beziehungen hatten, sind größtenteils schon weg, und diejenigen, die jetzt Geld oder Beziehungen haben, verdanken alles dem Krieg und wollen gar nicht weg.
Emina scheint über sein Eingeständnis nicht erschrocken zu sein. »Warum bist du nicht mit Riza weggefahren?«
Er zuckt die Achseln. »Ich habe nicht gedacht, dass es so lange dauert. Ich wollte unsere Wohnung bewachen, und ich wollte meine Arbeit nicht verlieren. Vielleicht war es ein Fehler.«
»Nein. Wir müssen bleiben. Wenn wir alle gehen, kommen sie von den Bergen runter, und die Stadt gehört ihnen.«
»Wenn wir bleiben, schießen sie von den Bergen aus auf uns, bis wir alle tot sind, und dann kommen sie ebenfalls runter.«
»Das lässt die Welt niemals zu. Früher oder später müssen sie uns helfen«, sagt sie. Ihrem Tonfall kann er nicht genau entnehmen, ob sie selbst glaubt, was sie sagt. Er kann es sich jedenfalls nicht vorstellen. Sie beide sehen doch, wie die Stadt rundum zerfällt.
»Niemand wird kommen«, sagt er schärfer als beabsichtigt. »Wir sind auf uns allein gestellt, niemand wird uns zu Hilfe kommen. Bist du dir darüber nicht im Klaren?«
Emina senkt den Blick und schließt die beiden oberen Knöpfe ihres Mantels. Sie steckt die Hände in die Taschen. Nach ein paar Minuten sagt sie leise: »Ich weiß, dass niemand kommt. Ich will es bloß nicht glauben.«
Dragan weiß genau, was sie meint. Er will es auch nicht glauben. Lange hat er Hoffnung gehabt, die Nachrichten gehört und darauf gewartet, dass jemand diesem Irrsinn Einhalt gebietet. Sein ganzes Leben lang war alles durch Gesetze geregelt. Wenn man gegen die Gesetze verstieß, nahm einen die Polizei fest. Es herrschte Ordnung, und niemand stellte das in Frage. Dann, von einem Augenblick zum anderen, zerfiel alles. Wie viele andere hatte auch Dragan länger, als es die Vernunft gebot, darauf gewartet, dass die Ordnung wiederhergestellt würde. Er versuchte, so zu leben, als wäre alles noch so wie immer, als hätte noch immer jemand das Sagen. Als wären die Männer auf den Bergen eine Plage, der jeden Moment abgeholfen werden würde. Der gesunde Menschenverstand würde sich durchsetzen. Aber eines Tages konnte er sich nichts mehr vormachen. Das hier war keine kurze Krise, keine vorübergehende Störung, die im Nu behoben werden würde.
»Ich habe in der Bäckerei mit einem Mann zusammengearbeitet, der Jasenovac überlebt hat«, sagt Dragan. Der Mann war fünf, sechs Jahre vor dem Krieg in Rente gegangen, aber Dragan sah ihn noch ab und zu. Sie trafen sich hin und wieder auf einen Kaffee, gelegentlich auch auf ein Glas Slibowitz. Er hatte mit Dragan nie über seine Erlebnisse im Krieg gesprochen, bis kurz vor Ausbruch der Kämpfe, als er ihm erzählte, dass er in dem Lager war, das man auch das »balkanische Auschwitz« nannte. Er erzählte ihm, dass die Wachmänner in Jasenovac miteinander wetteiferten, wer die meisten Menschen an einem Tag töten konnte. Der Sieger, ein Wachmann namens Petar Brzica, brachte mit einem Schlachtermesser eintausenddreihundertsechzig Menschen um. Als Siegespreis bekam er Wein, ein Spanferkel und eine goldene Uhr.
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