Der Cellist von Sarajevo
einmal eingeschlagenen Weg gibt. Die Entscheidungen, die sie getroffen hat, lassen ihr keine Wahl mehr.
In der Wohnung mit der Attrappe bewegt sich etwas. Sie spürt es, bevor sie es sieht, lange, bevor sie den Lauf ihres Gewehrs um vierzig Grad nach Norden schwenkt. Als sie durch das Zielfernrohr blickt, sieht sie nichts Ungewöhnliches. Alles wirkt unverändert. Sie vermutet, dass sie sich hat täuschen lassen, und wendet sich wieder dem Fenster im vierten Stock zu.
Sie will es gerade wieder anvisieren, als ihr klar wird, was sich in der Wohnung mit der Attrappe verändert hat. Das Gewehr, das sie gesehen hat, ist nicht das von ihr dort angebrachte. Da begreift sie, dass sie in ihre eigene Falle getappt ist. Und obwohl sie es nicht sieht, weiß sie, dass das Gewehr am Fenster sie jetzt erfasst hat und eine Kugel unterwegs ist. Sie wirft sich zu Boden, als das Geschoss die Plastikplane zerfetzt und sich in die hintere Wand des Zimmers bohrt. Sie zieht die Knie an die Brust und wartet auf den zweiten Schuss, der den Cellisten töten wird.
Die Musik erklingt weiter. Das Echo des Schusses hallt von den Häusern zu beiden Seiten der Straße wider und übertönt den Cellisten, aber sobald es verklingt, ist das Cello wieder zu hören, und es fällt kein zweiter Schuss. Er spielt zu Ende, hat den Schuss, der keine zwölf Meter über ihm abgegeben wurde, entweder nicht wahrgenommen oder kümmert sich nicht darum. Strijela ist sich darüber im Klaren, dass er nicht wissen kann, welche Seite geschossen hat. Sie fragt sich, ob er sich überhaupt darum schert, wer welche Kugeln abfeuert. Sie fragt sich, inwieweit das für irgendjemanden noch eine Rolle spielt.
Sie widersteht dem Drang, ihr Gewehr zu nehmen und das Feuer zu erwidern. Aus irgendeinem Grund hat der Heckenschütze den Cellisten nicht getötet. Vermutlich ist er nicht davon überzeugt, dass sie tot ist, und will ihr Fenster weiter im Visier behalten. Strijela bleibt, wo sie ist. Sie möchte, dass er sie für tot hält.
»Meiner Meinung nach hat er sich entweder nach dem ersten Schuss verzogen, oder er hat gewartet, um festzustellen, ob er Sie getroffen hat«, sagt Nermin. »Vielleicht hatte er auch einfach keine freie Schussbahn auf den Cellisten.« Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, als könnte seine lässige Haltung eine schlüssige Erklärung ersetzen.
Strijela weiß, dass er freie Schussbahn hatte, und sie glaubt nicht, dass er geflohen ist oder abgewartet hat, um sich von ihrem Tod zu überzeugen. Dieses Gefühl ist immer stärker geworden, seit sie die Wohnung verlassen hat. Sie hat jedoch keine andere Erklärung zu bieten und ist nicht scharf darauf, Nermin irgendetwas davon zu erzählen, was sie meint oder nicht meint.
»Ich schicke über Nacht einen Mann in die Wohnung, falls er kommt und eine Leiche sucht.«
»Sorgen Sie dafür, dass er sich vom Fenster fernhält und morgen früh weg ist«, sagt sie. »Er wird es beobachten, und er weiß, wie ich aussehe.«
»Selbstverständlich«, sagt Nermin. Er schaut sie an, als denke er über etwas nach, dann hat er offenbar eine Entscheidung getroffen und beugt sich vor. Strijela findet, dass er müde wirkt. Er hat tiefe Falten um die Augen, die sie, soweit sie sich erinnern kann, vorher nicht gesehen hat, und sein normalerweise makelloser Kampfanzug ist zerknittert und fleckig.
»Die Lage hier ist unsicher«, sagt er. »Ich weiß, dass ich Ihnen etwas versprochen habe, und ich werde versuchen, mich daran zu halten, aber intern gehen Dinge vor, die uns in den kommenden Tagen Schwierigkeiten bereiten können.«
Sie nickt. Es ist kein Geheimnis, dass es Auseinandersetzungen zwischen denen gibt, die die Stadt um jeden Peis verteidigen wollen, und anderen, die der Meinung sind, die Prinzipien, die Grundgedanken, deretwegen es sich lohnte, um Sarajevo zu kämpfen, dürften nicht preisgegeben werden, nur um die Stadt an sich zu retten. Im Mittelpunkt des Ganzen stehen die Kriminellen. Als der Krieg ausbrach, waren sie die Einzigen, die etwas vom Kämpfen verstanden, vom richtigen Kampf, und sie haben sofort die Verteidigung der Stadt übernommen. Mit der Zeit waren sie nicht mehr in den Griff zu bekommen, und für diejenigen, die keine Kriminellen waren, wurde es immer schwerer, über die Profitgier, die Gesetzesverstöße und anderes Unrecht hinwegzusehen. Aber Macht gibt man freiwillig nur selten wieder ab. Es kommt darauf an, wer sich durchsetzt. Sie weiß, dass das Überleben der Stadt ebenso sehr
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