Der Cellist von Sarajevo
Westen wenden, als ihre Beine steif werden und ihre Finger pochen. Sie erstarrt und versucht herauszufinden, was diese Reaktion ausgelöst hat. Sie atmet tief durch, dann wird ihr klar, dass der Heckenschütze sie beobachtet. Sie weiß nicht, wo er ist, aber sie kann seine Blicke spüren. Er könnte an irgendeinem Fenster sein, er könnte aber auch einer von den zehn Menschen sein, die in Sicht sind und allem Anschein nach nichts Ungewöhnliches tun. Eigentlich spielt es keine Rolle, da sie ihr Gewehr nicht bei sich hat. Zunächst packt sie die helle Panik, doch natürlich ist sie so sicher, nur das Gewehr hätte sie verraten. Für ihn ist sie einfach eine Person, die auf der Straße sitzt. Vielleicht nimmt er an, dass sie eine Verwandte von jemandem ist, der hier starb, eine Einwohnerin, die den Toten ihre Achtung bezeugt, oder eine Verehrerin des Cellisten. Woher sollte er wissen, dass sie diejenige ist, die man auf ihn angesetzt hat?
Natürlich ist sie sich darüber im Klaren, dass er Bescheid wüsste, wenn er sie im richtigen Moment beobachtet hätte, wenn er gesehen hätte, dass sie zuerst auf sein Fenster geschaut hat, dann auf ihres und nach oben. Aber dann wäre sie ihrer Meinung nach bereits tot.
Vorsichtshalber steckt sie die Hände in die Taschen und geht nach Osten, weg von dem Haus, in dem sie ihre Stellung hat. Sie läuft an seinem Fenster vorbei und die Straße entlang, ohne zurückzublicken, ohne irgendwohin zu schauen. Sie geht weiter nach Osten, bis sie auf die ausgebrannte Ruine der Bibliothek stößt. Dann hält sie sich in Richtung Norden und kehrt zu ihrer Wohnung zurück, um das Gewehr zu holen, mit dem sie ihren Feind töten wird.
Sie hat sich vorgenommen, den Heckenschützen nicht mehr zu unterschätzen. Sie wird davon ausgehen, dass er genauso gut, wenn nicht sogar besser ist als sie und alle nötigen Vorkehrungen treffen wird, um nicht entdeckt zu werden. Obwohl sie schon seit fast fünf Stunden in dieser Wohnung ist, wird sie sich bis kurz vor vier nicht an ihre Schussposition begeben. Sie will ihm nicht die geringste Gelegenheit bieten, sie ausfindig zu machen. Sie ist bereits in der Wohnung mit der Attrappe gewesen und hat Gewehr und Mütze umgestellt, damit ihm, wenn er sie bemerkt, nicht auffällt, dass sie noch an der gleichen Stelle sind wie tags zuvor.
Sie hat sich gestern Abend nicht bei Nermin gemeldet. Er weiß sicher, dass sie den Heckenschützen nicht getötet hat und der Cellist noch am Leben ist. Aber wenn dieser Tag vorüber ist und sie noch lebt, muss sie mit ihm sprechen. Sie ist sich nicht sicher, was passieren wird, wenn sie den Heckenschützen nicht erwischt oder, schlimmer noch, der Cellist stirbt. Sie hat noch nie versagt und will lieber nicht herausfinden, wie man in ihrer Truppe mit so einem Misserfolg umgeht.
Es ist so weit. Bald wird der Cellist auf die Straße kommen, und der Heckenschütze muss sich zeigen. Sie geht ans Fenster, bringt ihr Gewehr auf einem umgekippten Tisch in Anschlag, der ihr als Auflage dient, und drückt das Auge ans Zielfernrohr. Sie visiert das Fenster im vierten Stock an, an dem er sein wird, und sucht das Loch in der Plastikplane. Es ist leicht zu finden, zumal es seit dem letzten Mal größer geworden ist. Es ist jetzt so groß, dass man mühelos ein Ziel erfassen und durchschießen kann, und Strijela ist davon überzeugt, dass sie ihn erwischen wird, wenn er es versucht. Es wird ein Kinderspiel werden. Sie lächelt.
Der Cellist tritt aus der Tür und geht zu seinem Platz mitten auf der Straße. Am Fenster im vierten Stock tut sich nichts. Er klappt seinen Hocker auf und sitzt reglos und schweigend da. Er hebt die Arme und beginnt zu spielen. Am Fenster im vierten Stock tut sich noch immer nichts. Strijela stellt fest, dass sie die Töne, die er spielt, allmählich kennt. Sie hat sie im Kopf, bevor sie sie hört, und kann diejenigen ergänzen, die vom Straßenlärm und den Granaten übertönt werden.
Nach fünf Minuten wird ihr klar, dass irgendetwas nicht stimmt. Der Cellist spielt nur zehn, allenfalls fünfzehn Minuten, und der Heckenschütze ist noch nicht aufgetaucht. Ihr fällt kein Grund für seine Verspätung ein, jedenfalls keiner, der ihre Pläne nicht hinfällig werden lässt. Aber ihr bleibt nichts anderes übrig, als das Fenster im vierten Stock weiter im Visier zu behalten, darauf zu warten, dass er sich bewegt. Durch eine Reihe von Entscheidungen hat sie sich in eine Lage gebracht, in der es keine Alternative zu dem
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