Der Cellist von Sarajevo
Donnerschlag eines Gewehrschusses, der vom Berg herabhallt.
Dragan blickt nach unten und sieht, dass er den Hut des Mannes in seinen Händen hat. Er kann sich nicht erinnern, ihn aufgehoben zu haben, hat keine Ahnung, weshalb er das hätte tun sollen. Er schaut auf den Hut, streicht mit dem Daumen über die Krempe, bückt sich dann und legt ihn wieder auf den Asphalt, bevor er sich Emina zuwendet.
Strijela
Die ganze Nacht lang hat Strijela im Halbschlaf vor sich hin gedämmert und die Ereignisse des Vortags ein ums andere Mal Revue passieren lassen, ohne zur Ruhe zu kommen oder zu begreifen, was vorgefallen war. Sie ist sich völlig sicher, dass der Heckenschütze da war und den Cellisten im Schussfeld hatte. Aber sie kann es sich nicht erklären. Das macht ihr zu schaffen. Allmählich glaubt sie, dass sie sich nicht mehr im Griff hat, vielleicht nicht mehr die Waffe ist, die sie vor kurzem noch war. Außerdem muss sie sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass der Heckenschütze, den die Männer auf den Bergen losgeschickt haben, besser ist als die meisten anderen. Und vielleicht hat er einen Plan, auf den sie gar nicht kommt.
Es ist fast neun Uhr morgens, und wieder sitzt sie an der Stelle, an der der Cellist spielen wird. Etwas hat sich verändert. Gestern saß sie aufgerichtet da und behielt die Straße rundum im Auge, heute hingegen lässt sie die Schultern hängen, hat den Rücken gekrümmt und starrt den Boden zu ihren Füßen an.
Sie denkt an die Beerdigung, bei der sie letzten Monat war. Als ihr Nachbar Slavko auf dem Heimweg vom Wasserholen von einem Heckenschützen mit einem glatten Schuss durch den Hals getötet wurde, brachte man ihn zum Koševo-Stadion, dessen Trainingsplätze jetzt als Friedhof dienen. Seine Frau meinte, er wäre gern in der Nähe der Stätte begraben, an der er so viele schöne Fußballspiele gesehen hatte.
Strijela geht normalerweise nicht zu Beerdigungen. In den ersten Kriegstagen war sie bei so vielen wie möglich, um den Toten ihre Achtung zu erweisen, aber allmählich stumpfte sie ab, und je öfter sie hinging, desto weniger empfand sie, bis sie das Elend, der allgegenwärtige Tod und die Trauer der Hinterbliebenen nur noch wütend machten. Wenn sie sich die Gesichter der Ehemänner und -frauen, der Mütter und Söhne anschaute, spürte sie, wie sie der Zorn packte, ein Zorn, der immer größer wurde und sich gegen jene richtete, die am meisten verloren hatten. Wie konnten sie derart trauern? Warum waren sie nicht schon längst, seit vielen Monaten, über den Punkt hinaus, ab dem man keinen Schmerz mehr spürt? Und dann, als sie davon überzeugt war, dass sie jeden Moment zu einem weinenden Witwer gehen und ihm das Genick brechen würde, wurde ihr klar, was sie tat, was sie dachte, und sie schämte sich, fragte sich, wie sie so hatte werden können. Dann fielen ihr die Männer auf den Bergen ein, und sie wusste, dass sie es waren, die ihnen das angetan hatten. Später, vielleicht auch am nächsten Tag, tötete sie so viele von ihnen wie möglich. Doch das Ganze erschöpfte sie und erforderte einen Aufwand an Kraft, den sie nicht mehr leisten konnte. Sie musste nicht nach einem Grund suchen, um Kugeln in die Berge zu jagen.
Aber sie hatte Slavko gemocht. Er war bei der städtischen Parkverwaltung gewesen, bis er kurz vor dem Krieg in Ruhestand ging, kannte sich gut mit Tieren und Pflanzen aus und hatte ihr oft von allerhand interessanten Sachen erzählt, die er in den städtischen Parks gesehen hatte, wenn sie auf den Aufzug warteten. Er war dünn und hochaufgeschossen und trug eine große Brille, mit der er aussah wie ein Insekt. Als junges Mädchen hatte Strijela ihn sich oft als riesigen Grashüpfer vorgestellt. Als sie einmal mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft auf der Straße Fußball spielte, flog der Ball davon, und Slavko stoppte ihn, bevor er den Berg hinabkullerte. Er drückte ihn an den Bordstein, schaute die ganze Bande an und kickte ihn ihr dann mit einem viel zu langen Bein zu. Andere Kinder standen näher, und bestimmt kannte er sie alle. Sie wusste, dass er sie ausgewählt hatte, und als der Ball schnurgerade an den anderen Kindern vorbeiflog und auf ihrem Fuß landete, war sie mit einem Mal stolz. »Passt auf die Autos auf«, sagte er zu ihnen, und als er an ihr vorbeiging, legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Und viel Spaß noch.«
Deshalb konnte sie nicht ablehnen, als Ismira, seine Frau, an ihrer Tür klopfte und sie bat, zu Slavkos
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