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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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nicht.
    »Wahrscheinlich sind sie ebenfalls tot. Ich hoffe es fast. Besser, als unter diesen Ungeheuern leben zu müssen.« Er sagt es ohne jede Gefühlsregung, mit einer nüchternen Offenheit, die sie erschreckt.
    »Mein Vater wurde ebenfalls getötet«, sagt sie zu ihrer eigenen Verwunderung. »Im ersten Gefecht beim Kantonsgebäude.«
    Hasan nickt. »Wir werden sie büßen lassen für das, was sie uns angetan haben, uns allen.«
    Strijela antwortet nicht, aber sie hat ein ungutes Gefühl. Irgendetwas an dem Tonfall, mit dem Hasan seine Rachegelüste kundtut, beunruhigt sie. Sie selbst hat oft diesen Wunsch nach Vergeltung verspürt, hat deswegen getötet. Sie weiß nicht recht, warum ihr das jetzt zu schaffen macht.
    Hasan wendet sich wieder dem Fenster zu. Strijela blickt durch ihr Zielfernrohr und sucht die Straßen nach irgendetwas ab, das militärisch wirkt. Manchmal kann man nur schwer feststellen, wer ein Soldat ist und wer nicht. Die Männer auf den Bergen sind größtenteils Freischärler und tragen für gewöhnlich keine Uniform. Wenn sie ein Gewehr haben, sind sie offensichtlich Kämpfer, aber oftmals sieht man ihre Waffen nicht, oder sie haben, wenn es sich um Offiziere oder höhere Amtspersonen handelt, lediglich Faustfeuerwaffen, die von weitem kaum zu erkennen sind. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass die Art, wie sich jemand bewegt, wie sich andere Menschen in seiner Umgebung bewegen, aufschlussreich ist. Ein Offizier stolziert umher, und alle, die in seiner Nähe sind, verhalten sich ehrerbietig, gehen ihm aus dem Weg. Soldaten sind für gewöhnlich in Trupps unterwegs, und der Rangniedrigste geht vorneweg. Häufig zahlt es sich aus, wenn man Geduld hat, einen Mann passieren lässt, ohne zu schießen. Normalerweise folgen ihm andere. Ein Ziel auszusuchen kann eine wahre Kunst sein. Sie fragt sich, wie Hasan vorgehen wird, ob er sich klug anstellt.
    Sie ist sich darüber im Klaren, dass sie sich zu rechtfertigen versucht, dass sie ihren Prinzipien untreu wird, aber ihr bleibt kaum etwas anderes übrig. Alles in allem kann sie nicht bestreiten, dass diese Männer mit den Gewehren die Kugel verdient haben, die sie niederstreckt. Wenn sie sie abfeuert, nun ja, dann soll es so sein. Sie hat ihre Entscheidung bereits vor Monaten getroffen. Vermutlich hatte sie Glück, dass sie so lange ihre eigenen Wege gehen konnte, ohne sich in den militärischen Apparat einspannen lassen zu müssen.
    »Da«, sagt Hasan. »Ich habe einen gefunden.«
    »Wo?«, fragt sie. Sie sieht nichts, das einen Schuss wert wäre.
    »Auf zwei Uhr, fünfzig Meter südlich von dem gelben Bus.«
    Strijela schaut hin und sieht unmittelbar hinter einem ausgebrannten Schulbus einen Mann, der den Berg hinaufgeht. Er versucht sich dicht an den Häusern zu halten, hat aber offenkundig die Sichtachse falsch eingeschätzt und ist in Reichweite. Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Er ist alt, vermutlich um die Sechzig, und seine Kleidung ist für einen Soldaten zu abgetragen. Seine Schritte sind zögerlich, ohne Selbstvertrauen, und er ist eindeutig unbewaffnet.
    »Der Mann ist ein Zivilist«, sagt sie. »Kein Soldat.«
    »Er ist unser Ziel«, sagt Hasan. »Ich suche aus, auf wen wir schießen, nicht Sie.«
    »Nein«, sagt sie. »Der ist nicht geeignet.« Sie hält Ausschau nach einem anderen Ziel. Ein Stück hinter dem Mann sieht sie etwas aufblinken, als ob Metall funkelt, und dann tritt ein Mann einen Schritt nach rechts, in ihr Schussfeld. Er bewegt sich wie ein Soldat, raucht eine Zigarette. Er tritt von einem Bein aufs andere, und sie sieht sein Gewehr. Offenbar ist er sich nicht bewusst, dass er ungedeckt ist, ist träge und gleichgültig geworden. Er redet mit jemandem, den sie nicht sehen kann, folglich ist er nicht allein.
    »Da, in Richtung Süden. Dort ist ein Soldat.« Ihr Finger streicht über den Abzug. Sie will Hasan entgegenkommen, ihn den Befehl erteilen lassen, aber sie hat sich bereits entschieden.
    »Nein«, sagt Hasan. »Vergessen Sie ihn. Ich habe zu entscheiden. Schießen Sie auf mein Ziel.«
    Strijela nimmt den Finger vom Abzug, blickt zu Hasan auf. »Ich töte keinen unbewaffneten Zivilisten.«
    Hasan dreht sich zu ihr um. »Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen auf jemanden schießen, dann werden Sie auf ihn schießen.«
    Strijela schüttelt den Kopf. »Nein.«
    Hasan duckt sich unter das Fenster. »Wofür halten Sie das hier, für eine Art Spiel?«
    »Das Gleiche könnte ich Sie fragen«, sagt sie.
    »Schießen

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