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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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Sie.«
    »Nein. Ich töte den Soldaten.«
    Hasan schaut sie an, schüttelt den Kopf. »Hier gibt’s nichts zu verhandeln. Auf den Soldaten können andere schießen. Das ist nicht unsere Aufgabe.«
    Strijela nimmt die Hand von ihrem Gewehr und wendet sich an Hasan. »Was meinen Sie damit?«
    »Ich meine damit, dass Sie kein gewöhnlicher Soldat sind. Oberst Karamans Einheit ist keine x-beliebige Truppe.«
    »Sie töten Zivilisten?«
    Er lacht. »Klar. Wir machen alles Mögliche. Das hier ist lediglich eine Prüfung, die Sie gerade verpatzen. Glauben Sie, dieser Mann ist unschuldig? Antworten Sie mir. Wie kann er in Grbavica frei herumlaufen? Warum ist er nicht tot, in einem Lager oder sonstwo?«
    Strijela kennt die Anwort, weiß, dass es deshalb so ist, weil ihn die Männer auf den Bergen als einen der ihren betrachten. »Das heißt noch lange nicht, dass er einer von denen ist, die uns töten.«
    »Das spielt keine Rolle. Er ist einer von denen. Sie sind seine Söhne, er ist ihr Vater, Großvater oder Onkel. Sie haben unsere Väter, Großväter und Onkel getötet.«
    »Wir wollen besser sein als sie.«
    »Selbstverständlich sind wir das auch. Das sind tollwütige Tiere. Wir tun der Welt einen Gefallen, wenn wir sie abknallen.«
    Strijela denkt darüber nach, fragt sich, wie viele von den Männern auf den Bergen sie getötet hat. Durch ihren Tod wurden Menschenleben gerettet. Das weiß sie. Und sie weiß auch, dass sie nichts als Abscheu für diejenigen empfindet, die töten. Aber nicht alle sind so. Nicht alle von ihren Müttern, Vätern und Schwestern sind so. »Manche sind auch gut.«
    Hasan grinst. »Ich habe noch keinen kennengelernt.«
    »Es gibt viele in der Stadt.«
    »Und mit denen werden wir uns zu gegebener Zeit auch befassen.«
    »Was soll das heißen?«, fragt sie.
    »Fragen Sie eines Tages Ihren Freund Nermin Filipović«, sagt er. »In diesem Krieg gibt es zwei Seiten, Strijela. Unsere und ihre. Dazwischen gibt es nichts.«
    Er sieht wieder aus dem Fenster, richtet seinen Feldstecher auf die Straße. »Er ist noch da. Fünfzehn Meter weiter südlich. Schießen Sie jetzt.«
    Sie legt die Hände um das Gewehr, drückt ihr Auge ans Zielfernrohr. Sie folgt Hasans Vorgabe, erfasst den Mann und zielt. Sie weiß jetzt, wie sie in diese Situation geraten ist. Sie kann genau den Moment benennen, von dem an es keinen Ausweg mehr gab. Die Männer auf den Bergen haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihr einzureden, dass sie sie hasst. Sie hat sich nicht allzu heftig dagegen gewehrt. Hat sich einfach dazu hinreißen lassen. Sie fragt sich, ob sie sich hätte anders verhalten können. Sie hofft es. Sie hofft, dass es irgendwo in der Stadt Menschen gibt, die der Versuchung widerstehen, diese Männer zu verteufeln, zu sagen, sie wären alle gleich, ihnen ihr Daseinsrecht streitig zu machen – die all das nicht tun, was jene Männer den Einwohnern von Sarajevo immer vorgeworfen haben.
    Aber für sie ist es zu spät. Sie kann die Zeit nicht zurückdrehen, nicht ungeschehen machen, was geschehen ist. Sie legt den Finger an den Abzug, atmet aus, versucht ihren Herzschlag zu bezähmen. Sie blickt durch das Zielfernrohr, zieht das Fadenkreuz eine Idee höher. Sie sieht den Heckenschützen vor sich, den sie auf den Cellisten angesetzt hatten, seine geschlossenen Augen, die gesenkte Hand. Sie hört Musik, und diesmal schießt sie nicht.
    »Nein«, sagt sie. »Ich will nicht.«
    Sie fragt sich, ob Hasan auf den Mann schießen wird oder ob er sie erschießt, aber er macht keinerlei Anstalten. Er wendet sich vom Fenster ab, sieht zu, wie sie ihr Gewehr aus dem Loch in der Wand zieht und zur Tür robbt.
    »Sie sind sich doch hoffentlich darüber im Klaren, was Sie da tun«, sagt er.
    Strijela robbt weiter. »Ich weiß genau, was ich mache«, sagt sie, als sie im Flur aufsteht. Raschen Schrittes, aber ohne zu rennen, geht sie zum Treppenhaus. Sie hängt sich das Gewehr nicht über die Schulter, ist sich nicht sicher, ob sie es nicht noch braucht. Im Treppenhaus ist es dunkel, so dass sie sich nach unten tasten muss. Sie achtet auf jeden Laut, rechnet ständig damit, dass Hasan ihr folgt, aber er kommt nicht. Sie huscht aus dem Treppenhaus und geht durch das Foyer zum hinteren Eingang des Gebäudes. Die beiden Wachposten sind noch da, beachten sie aber auch diesmal nicht. Kurz bevor sie durch die Doppeltür hinausgeht, wirft sie einen Blick auf ihre Uhr und sieht, dass es fast vier ist. Sie tritt auf die Straße und rennt

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