Der Chaos-Pakt
Chaos-Feuer, das heller leuchtete als die Sonne.
»Na bitte!« Auch Ayrlyn hatte im grellen Licht die Augen geschlossen.
Der Ingenieur zwang sich, mit den Sinnen wieder nach dem Kegel der Ordnung zu greifen. Er drückte und schob und schloss die Spitze des Kegels, bis die Grenze zwischen den Kräften wieder an Ort und Stelle war und der Strom des Chaos versiegte.
»Mann ...« Er seufzte, die Augen geschlossen, während rings um sie herum noch die letzten Funken flogen. Als es wieder dunkel wurde, rieb er sich die Augenlider und massierte sich die Schläfen.
»Das kann man wohl sagen«, fügte Ayrlyn hinzu.
»War das ein Blitz? Hat es geblitzt?«, wollte Sylenia wissen, die erschrocken aufgefahren war. »Aber wie kann es blitzen? Wir haben doch kein Gewitter.«
»Mach dir keine Sorgen, Sylenia«, beruhigte Nylan sie nicht ganz aufrichtig. »Wir haben nur experimentiert. Es war bloß ein Experiment.« Er schluckte.
»Ein Experiment? Was ist das? Macht Ihr Blitze aus dem Boden? Ist das ein Experiment?«
In gewisser Weise hatte das Kindermädchen sogar den Punkt getroffen, denn der größte Teil der Entladung war tatsächlich durch die Ladungsdifferenz zwischen einer Wolke und dem Boden entstanden, aber der Ingenieur wollte nicht in die Einzelheiten gehen. »Es wird keine seltsamen Lichter mehr geben, nicht heute Nacht.«
»Seid Ihr sicher?«
»Ja, ich bin ganz sicher.«
Nylan tupfte sich die Stirn ab, die zugleich heiß und kalt war. Er glaubte, dass er stank – nach Schweiß und nach nackter Angst.
»Er wird es nicht noch einmal machen«, fügte Ayrlyn hinzu.
»Danke, Heilerin.« Sylenia legte sich wieder auf ihre Bettrolle und murmelte gerade laut genug, dass die Engel es hören konnten, »... schlimm genug, wenn sie Schwerter durch Rüstungen werfen. Jetzt holen sie sogar noch Feuer aus dem Boden ... würde Tonsar sagen? Oh, eine Menge würde er ...«
»Und ob«, flüsterte Nylan.
»Du«, sagte Ayrlyn. »Du redest doch auch selbst gern, wenn ...«
»Genug.« Der Schmied berührte sie am Kinn und drückte ihr den Mund auf die Lippen. Er hielt sie fest, ließ sich von ihr halten und versuchte, nicht zu sehr zu zittern.
Was am nächsten Tag geschehen mochte, blieb unausgesprochen. Sie wollten nicht darüber nachdenken. Auch nicht über die Möglichkeit, dass sie im Umkreis von mehreren Meilen jeden Magier aufgescheucht hatten. Aber sie hatten nicht mehr viel Zeit, sie wussten nicht genug und hatten nicht genug Erfahrung. Und sie waren allein und ungeschützt.
CXXXI
Z wei Aaskrähen flatterten vor ihnen von der Straße hoch, schwarze Gesellen, die sich einen Moment lang deutlich vor dem grünblauen Himmel abhoben. Nylan beugte sich etwas vor und betrachtete, was sie hinter sich zurückließen.
Endlich einmal wehte ein kräftiger Wind von Nordosten über die Hügel heran und ließ das Gras, die vereinzelten Bäume und die verkrüppelten Eichen rauschen. Der Wind brachte kühlere Luft von den Westhörnern mit, wo Ryba und die Wächterinnen von Westwind lebten und Anstalten machten, ganz Candar unwiderruflich zu verändern.
Der Ingenieur seufzte, seine Stute schnaubte und tänzelte kurz zur Seite, um einer toten Eidechse auszuweichen, an der die Vögel herumgepickt hatten. Das Chaos und die Ordnung, die noch von dem Kadaver ausstrahlten, verrieten Nylan, dass das Tier noch nicht ganz tot gewesen war, als die Aaskrähen sich darüber hergemacht hatten.
Nylans Stirn war heiß, obwohl der leichte Wind ihn etwas kühlte, sodass er nicht ganz so stark schwitzte wie sonst. Er öffnete die Wasserflasche und trank einen großen Schluck, dann spritzte er sich etwas Wasser ins Gesicht.
»Dein Gesicht ist rot, noch stärker gerötet als gewöhnlich«, bemerkte Ayrlyn.
»Deins auch.« Nylan sah sich zu Sylenia um, die gelassen hinter ihnen ritt. Die Haut des Kindermädchens schien unverändert. »Glaubst du, in der letzten Nacht ...«
»Es ist wohl gefährlich, das Chaos auf diese Weise loszulassen.«
»Ich weiß. Haben wir Alternativen?«
»Ich wüsste keine.« Ayrlyn folgte Nylans Beispiel und trank einen Schluck aus der Wasserflasche, verzichtete aber darauf, ihre gerötete Stirn und die Wangen zu benetzen.
Nein, sie hatten keine Alternativen. Das war ja das Problem, seit sie vor beinahe drei Jahren auf dem Dach der Welt gelandet waren. Oder waren es weniger als drei Jahre gewesen? Nylan holte tief Luft. Es kam ihm vor, als wäre es schon viel länger her.
»Engel, da ist jemand hinter uns.«
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