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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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passiert?« Und Tränen kollerten aus den entzündeten Augen. Sie hob den Vogel auf, wiegte ihn auf den Armen wie ein Kindlein, und blickte den Wachtmeister vorwurfsvoll an, so, als wolle sie ihn verantwortlich machen für diesen Tod. Um das Trili-Müetti standen die drei Armenhäusler, gestützt auf ihre Besen; einer in ihrem Rücken, der zweite rechts von ihr, der dritte links. Studer mußte an das Bild denken, das er gestern, bei seiner Ankunft, auf dem Friedhofe gesehen hatte. Drei Männer umstanden eine Leiche…
    Wie überraschend schnell war der Güggel verendet! Der Wachtmeister erinnerte sich, daß der Vogel in der neben dem Bottich liegenden schmutzigen Wäsche gepickt hatte – und Studer bückte sich zu diesem Haufen und begann ihn zu erlesen. Drei Taschentücher – sie rochen unangenehm nach Knoblauch; er drehte und wendete jedes einzelne, bis er das Monogramm entdeckt hatte: zwei verschlungene Buchstaben, A. Ä. – Anna Äbi…
    Knoblauch? Das bewies nicht viel: Übrigens hatte der Hahn mit seinem Schnabel auch das Päckli bearbeitet, das der Wachtmeister zwischen Ellbogen und Hüfte hielt. Nun hob er auch dieses an die Nase – kein Zweifel, das braune Papier roch nach Knoblauch… Dunkel erinnerte sich Studer an die Untersuchung eines Giftfalles. Damals waren Leintücher und Taschentücher geprüft worden, und sein Freund, der Assistent am Gerichtsmedizinischen, Dr. Giuseppe Malapelle aus Mailand, hatte ihm auseinandergesetzt, daß Knoblauchgeruch fast immer auf das Vorhandensein von Arsen schließen lasse; wenn man dann noch den Marshschen Spiegel finde, so habe man alle Beweise, die man brauche…
    Anna Äbi… Anna Hungerlott-Äbi… Ihre Wäsche roch nach Knoblauch… Aber das braune Papier, das an einen gewissen Wottli adressiert war, roch auch nach Knoblauch… Wottli – ein Lehrer der Gartenbauschule Pfründisberg.
    In Studers Kopf war eine große Verwirrung: Der ›Chinese‹ lag auf dem Grab der Anna Hungerlott-Äbi, sein Kittel, sein Mantel, sein Gilet waren unversehrt und zugeknöpft und dennoch, dennoch hatte ihn eine Kugel ins Herz getroffen… Der Schlafanzug des Toten war im Schrank eines Gartenbauschülers gefunden worden – verpackt in ein Papier, das nach Knoblauch roch. Und gestern abend? Warum traktierte der Notar Münch, der beim Hausvater zu Gast war, seinen Freund Studer mit Fußtritten in die Schienbeingegend? Drei Fußtritte! Nur weil der Wachtmeister vom Tode der Frau Hungerlott gesprochen hatte.
    Wottli… Wottli… Warum verfolgte Studer dieser Name? Nur weil er auf dem sonderbar riechenden Packpapier stand? Man mußte feststellen, ob der Güggel sich wirklich vergiftet hatte. Nicht einmal das war sicher, denn es schmeckte allzusehr nach einer überspannten Theorie. Obwohl – und dies durfte man nicht vergessen – die Wirklichkeit manchmal viel unglaubwürdiger ist als die Produkte der Phantasie.
    Vielleicht war der Notar Münch auf einer Spur, vielleicht wollte er den Privatdetektiv spielen, weil er einem Giftmord auf der Spur war?
    Plötzlich riß der Wachtmeister aus der Innentasche seiner gefütterten Lederjoppe eine Zeitung. Ein Blatt benutzte er, um die drei Nastücher einzupacken, ein zweites und ein drittes, um den toten Güggel dareinzuschlagen. Zwar mußte er schier einen Kampf mit dem Trili-Müetti ausfechten, denn die Alte wollte die Leiche ihres Freundes nicht hergeben. Aber endlich hielt Studer drei Pakete in den Armen, und die Art, wie er sich davonmachte, war fast eine Flucht zu nennen…
    Die drei Armenhäusler starrten ihm nach. Als er die Straße erreichte, die nach der Wirtschaft »Zur Sonne« führte, blickte er sich um: Längs der Grenze, welche die Gartenbauschule von der Armenanstalt trennte, standen zwei Dutzend Burschen. Sie lachten mit weit aufgerissenen Mäulern, sie schlugen sich auf die Schenkel, sie deuteten mit gereckten Zeigefingern auf den laufenden Fahnder und ein magerer Mann, der etwas abseits von der Horde stand, groß und glattrasiert war er (»Sicher der Lehrer Wottli!« dachte Studer), vermochte nicht, die Höhnenden zu beruhigen. Wieder brach die Sonne durch, sie beleuchtete die Front der Schule – an der äußersten Ecke war ein Fenster geöffnet und zwei Köpfe hoben sich ab… Auch von dort klang Lachen, höhnisches Lachen. Das Knechtlein und sein Stiefbruder verspotteten den Fliehenden… »Wartet nur!« brummte Studer. »Euch will ich!« Er bog um die Ecke der Wirtschaft, hastete die Treppe hinauf, betrat das Gastzimmer

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