Der Chinese
Sympathie, und zwar weil dieser Mann, dessen massiger Körper fast bäuerlich wirkte, so ausgezeichnet italienisch sprach. Und nicht nur das: er stellte keine langweiligen Fragen, sondern war in vielen wissenschaftlichen Dingen beschlagen.
Studer aber erreichte das Laboratorium im zweiten Stock nach kurzer Zeit. Er schnaufte, denn er hatte die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erstiegen.
»Hier, Dottore«, sagte er, legte das Päckli auf einen Tisch, zog sein Militärmesser und durchschnitt damit die Schnur.
»Un gallo!« rief der Assistent aus und wog den Güggel in der Hand. »Aber warum? Wozu, Ispettore?«
»Sezieren!« befahl Studer. »Und dann: Eingeweide untersuchen. Ich glaube, Sie werden Arsen finden. Hernach hab' ich noch das (er zeigte die drei Taschentücher) und dies hier (er wies auf das braune Packpapier, das Wottlis Namen trug) und endlich einen Schlafanzug.«
Dr. Malapelles farbige Krawatte bildete zwischen den Spitzen seines steifen Kragens einen winzigen Knoten. Der Assistent hielt dies Knötlein zwischen Daumen und Zeigefinger, während er erstaunt die vielen Gegenstände betrachtete.
»Auf Arsen? Auf A-Es?« fragte er, die chemische Bezeichnung für dieses Element gebrauchend.
»Jawohl«, nickte Studer. »Auf ›A-Es‹.«
Der Italiener zog eilig seinen Kittel aus, fuhr in einen weißen Labormantel – und begann geschäftig zu tun. Hansli, der geflügelte Freund der alten Armenhäuslerin wurde mit einer Lanzette geöffnet, der Inhalt des Kropfes in einen Kolben getan, mit Wasser bedeckt. Die Flamme des Bunsenbrenners leckte wie eine bläuliche Zunge an dem Drahtnetz, auf dem die Kugel des Kolbens lag, das Wasser begann zu sieden, der Hals, der mit feuchten Tüchern umhüllt war, füllte sich mit Dampf. Nun drehte Giuseppe Malapelle das Gas ab, der Bunsenbrenner zog seine Zunge zurück, nun wurden die feuchten Tücher entfernt: der Marshsche Spiegel war deutlich.
»Hmmm«, brummte Studer langgezogen. »Vergiftung eines Hahnes, wie?«
»Senza dubbio«, nickte der Assistent. »Ohne Zweifel.«
Jetzt kamen die Taschentücher an die Reihe. Auch an ihnen war Arsen nachzuweisen. Dann das Packpapier – der Arsenspiegel glänzte. Und Studer war verwirrt. Seine Verwirrung aber steigerte sich, als zum Schlusse der Schlafanzug des verstorbenen Farny James untersucht wurde. Die Hosen waren während einer halben Stunde in Wasser gelegen, und als dies Wasser nun im Kolben erhitzt wurde, blieb der Schnabel rein. Einzig Tropfen setzten sich an der Innenwand fest – aber kein glänzender Spiegel bildete sich. Als dann die Flüssigkeit erhitzt wurde, in der die Jacke des Pyjamas fast dreiviertel Stunden lang eingeweicht worden war, bildete sich nur ein durchsichtiger Hauch, der kaum glänzte, und Dr. Malapelle meinte, das braune Papier, welches diesen Stoff eingehüllt habe, sei an der schwachen Reaktion schuld.
Als Studer seine Uhr zog, wurde es ihm klar, daß er den armen Mann allzulange aufgehalten hatte – um halb zwölf hatte er das Gerichtsmedizinische betreten, und nun war es schon über zwei. Darum tat der Wachtmeister das einzig Vernünftige und lud den Italiener zum Essen ein. Das Töff ratterte durch die Stadt. Dr. Malapelle saß auf dem Soziussitz und schrie dem Wachtmeister von Zeit zu Zeit treffende Bemerkungen ins linke Ohr. Frau Hedwig Studer aber war an die stets wechselnden Essensstunden ihres Mannes gewöhnt, hatte den Tisch gedeckt und brauchte nicht lange, um für einen Dritten nachzutischen.
Der Assistent rührte mit dem Löffel in der Fleischsuppe, rühmte ihren Duft, bis Studer diesem Loben ärgerlich Einhalt gebot. Nicht um unnötige Schmeicheleien zu hören, sagte er, habe er den Dottore zum Mittagessen eingeladen, sondern um mit ihm zu diskutieren…
»Jetzt diskutiere ich nicht, jetzt esse ich!« schnitt der Assistent diese Predigt ab.
Erst beim schwarzen Kaffee ließ er Studer endlich zu Worte kommen. Des Wachtmeisters Frau aber verzog sich in die Küche; sie müsse das Geschirr waschen, sagte sie, und sie begehre nicht wieder eine Mordgeschichte erzählen zu hören. Eigentlich sei es ein Jammer, mit einem Fahnder verheiratet zu sein, immer komme so ein Mann zu spät zum Essen, und dann habe er nichts als Todesfälle oder Diebstähle oder Raubmorde im Kopf.
»Diesmal ist es kein Raubmord«, sagte Studer ärgerlich und begann den Fall des ›Chinesen‹ aufzurollen. Er erzählte von dem Erschossenen, der auf einem Grabe gelegen sei – und der Mörder habe
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