Der Chinese
und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Das Huldi stand hinter dem Schanktisch. Der Wachtmeister wischte sich die Stirne, bestellte ein großes Bier und verlangte eine lange, dicke Schnur. Als er sie erhalten hatte, schlug er sie um die drei Päckli, die vor ihm auf dem Tische lagen. Und sobald diese komplizierte Arbeit beendet war, stand er auf und verließ den Raum. Die Saaltochter hörte noch das Knattern des angelassenen Motors – Wachtmeister Studer fuhr nach Bern…
In der Bundesstadt
Als der Wachtmeister durch Burgdorf fuhr, kam es ihm auf einmal in den Sinn, daß er vergessen hatte, die Bekanntschaft des Lehrers Wottli zu machen. Und noch etwas anderes war ihm entfallen: er hätte mit seinem Freunde, dem Notar Münch aus Bern, sprechen müssen; es wäre notwendig gewesen, diesen juristisch geschulten Mann über das Testament, über das Vermögen des Ermordeten auszufragen. Wenn dieser Lehrer Wottli auch beschenkt worden war, dann tauchte in diesem Falle plötzlich eine unbekannte Person auf, die nicht weniger verdächtig war als beispielsweise der Gartenbauschüler Ernst Äbi; dieser hatte des toten ›Chinesen‹ blutbefleckten Schlafanzug in einem Schranke versteckt, der die Nummer sechsundzwanzig trug… Sechsundzwanzig… zweimal dreizehn!… Warum diese Zahl? Studer schüttelte den Kopf, vielleicht weil er die abergläubischen Gedanken, die sich mit Zahlen beschäftigten, vertreiben wollte; – vielleicht weil der Regen, welchen der Wind ihm ins Gesicht peitschte, seinen Wangen, seiner Nase Schmerzen zufügte.
Er wußte, daß die Leiche des Farny James ins Gerichtsmedizinische geschafft worden war, darum bog er nach dem Bahnhof rechts ab. Dr. Malapelle, den er von einem früheren Falle her kannte, empfing ihn mit einem Schwall von Begrüßungsworten. An der Leiche des Erschossenen, teilte der Assistent mit, sei nicht viel festzustellen gewesen. Studer verlangte, den Toten noch einmal zu sehen, und wurde in einen grellweißen Raum geführt. Das Gesicht des ›Chinesen‹ schien Hohn auszudrücken, vielleicht weil der Schnurrbart nicht mehr die Lippen verdeckte und man somit die Mundwinkel sehen konnte, die, abfallend, gegen das knochigharte Kinn wiesen.
»Ich will Sie mit technischen Ausdrücken verschonen, Ispettore… Die Kugel hat das Herz durchschlagen, der Mann war tot auf der Stelle.«
»Hat er viel Blut verloren?«
»Sicuro! Innere Verblutung war es keine.«
»Auf welche Distanz wurde geschossen?«
»Das ist zu schätzen sehr schwierig… Molto difficile… Keine Deflagrationsspuren… Wahrscheinlich vier oder fünf Meter.«
»Und das Kaliber?«
»Schätzungsweise sechs fünfunddreißig.«
»Was?« Studer blinzelte erstaunt. »Das war ja eine winzige Kugel. Wissen Sie, Dottore, daß man neben der Leiche einen großkalibrigen Revolver gefunden hat, einen Colt, fast ein Taschenmaschinengewehr – und daß auch aus dieser Waffe ein Schuß abgefeuert worden ist?«
Dr. Malapelle nannte den Wachtmeister nur dann »Ispettore«, wenn er mit ihm zufrieden war. Wenn er sich jedoch über Studer ärgerte, wechselte er die Anredeform und nannte ihn ›sergente‹, ein Wort, das er mit rollendem »r« aussprach.
»No, Sergente!« sagte der Assistent. Und dann gipfelte er, behauptend, der Wachtmeister sei kein guter, sei kein intelligenter Kriminalist – denn ein solcher hätte schon an der Einschußöffnung erkannt, daß eine kleinkalibrige Waffe an dieser Wunde schuld sei.
Studer kratzte sich am Nacken, und rund um seine spitze Nase runzelte sich die Haut. Er war verlegen und wütend auf sich, weil er die Untersuchung der Leiche nicht genauer vorgenommen hatte. Aber schließlich – ein Fahnderwachtmeister braucht nicht die Kenntnisse eines Arztes zu besitzen, und es wäre die Pflicht des seit langer Zeit nicht geschorenen Mediziners von Pfründisberg gewesen, ihn auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen. Studer hob die Achseln und ließ dann seine Hände gegen die Oberschenkel klatschen.
Aber plötzlich besann er sich an das verschnürte Paket, das er hinten auf dem Soziussitz seines Töffs befestigt hatte. Er kehrte der Leiche des ›Chinesen‹ den Rücken, sprang zur Tür, wo er noch einmal den Kopf wandte, um dem Assistenten zuzurufen, er möge droben im Labor auf ihn warten. Er habe ein paar Dinge mitgebracht, deren Analyse ihm notwendig scheine.
»Bene, bene, Ispettore«, sagte Dr. Malapelle, nun ganz versöhnt. Der Mailänder hatte für diesen Fahnderwachtmeister eine große
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